In den Intensivstationen der Spitäler landeten vor allem ältere Covid-Patienten. Immer mehr sind nun geimpft – dennoch sei es für Entwarnung zu früh, sagt Experte Klimek.

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Markus Wallner will sich und seinen Landsleuten nicht das Bummerl anhängen lassen. Zwar ist Vorarlberg innerhalb eines Monats vom Musterschüler zum Bundesland mit der höchsten Sieben-Tage-Inzidenz – Covid-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner – mutiert. Doch dem türkisen Landeshauptmann fallen viele Gründe ein, warum daran nicht die allein im Ländle offenen Lokale schuld sind.

Abgesehen vom Umstand, dass die ansteckendere "britische" Virus-Mutation in Vorarlberg gerade jetzt so richtig um sich gegriffen hat, zweifelt Wallner die Aussagekraft der Zahlen an. Man müsse sich von der Fixierung auf die Infektionskurve lösen, sagte er in der ZiB 2 des ORF: "Der starre Blick auf die Inzidenz ist zu wenig."

Der ÖVP-Politiker stellt damit nichts Geringeres als den zentralen Maßstab in der Pandemie infrage. Der tägliche Blick auf die Sieben-Tage-Inzidenz ist seit Ausbruch der Corona-Krise zum kollektiven Ritual geworden. Weist der Trend nach oben, heben Experten warnend den Zeigefinger, berufen Politiker Krisentreffen ein, müssen sich Bürger auf neue Lockdowns einstellen. Warum soll dieser Wert plötzlich vernachlässigbar sein?

Spitalsrisiko steigt mit dem Alter

Wallner verwies auf den Fortschritt der Impfkampagne, die alte und angeschlagene Menschen vorreiht. Allmählich seien jene Teile der Bevölkerung vor Covid geschützt, die im Fall einer Ansteckung ein besonders hohes Risiko gehabt hätten, im Spital und sogar in einer Intensivstation zu landen, so das Argument. Also könne sich Österreich ein höheres Infektionsniveau leisten, ohne dass die Krankenhäuser an die Überlastungsgrenze gerieten: Zwar würden sich mehr junge Menschen anstecken, doch die verkrafteten die Krankheit besser und bräuchten viel seltener Behandlung.

Zahlen aus der Gesundheit Österreich GmbH (Goeg) untermauern den Gedankengang: Demnach hatte etwa ein 70- bis 74-jähriger Infizierter im Vorjahr ein gut 15-mal höheres Risiko, auf einer Intensivstation zu landen, als ein 40- bis 44-jähriger.

Weil davon ausgegangen wird, dass die in Österreich längst dominante britische Mutation für schwerere Krankheitsverläufe sorgt, könnte die Gefahr eines Spitalsaufenthalts für jüngere Menschen künftig wachsen. Laut Goeg ist das Durchschnittsalter der Covid-Patienten in Intensivstationen seit Dezember bereits von 68,1 auf 63,8 Jahre gesunken. Dennoch wird ein 40-Jähriger immer noch ein deutlich geringeres Risiko haben als ein 70-Jähriger von Beginn an hatte.

Österreich ist nicht Israel

Hat Wallners Kalkül also etwas für sich? Peter Klimek hält das Argument für schlüssig, lässt es aber erst für die Zukunft gelten. Manche Politiker täten geradezu so, "als ob wir beim Impfen bereits so weit wie Israel oder Großbritannien sind", sagt der Forscher vom Complexity Science Hub in Wien. Doch die offiziellen Zahlen zeigen ein anderes Bild: Demnach warten von den über 65-Jährigen mit Stand 21. April immer noch mehr als 40 Prozent auf den ersten Stich.

Die Durchimpfungsrate sei auch bei den Älteren noch keineswegs so hoch, um Entwarnung zu geben, urteilt Klimek. Andernfalls hätte ja der Anteil der Infizierten, die auf eine Intensivstation kommen, sinken müssen. Doch das ist bis dato nicht passiert – im Gegenteil: Die Hospitalisierungsrate ist in den vergangenen Wochen, getrieben von der britischen Mutation, gestiegen.

Trügerisch ruhig in Vorarlbergs Spitälern

Dass Vorarlberg – wie Wallner argumentiert – derzeit von 59 Intensivbetten nur acht mit Covid-Patienten belegt hat, könnte sich als trügerische Momentaufnahme entpuppen. Denn die Erfahrung zeigt, dass sich die Inzidenzzahlen erst mit zwei- bis dreiwöchiger Verspätung in der Spitalsauslastung niederschlagen. Eines sollte aus vergangenen Wellen endlich gelernt werden, sagt Klimek: Als Erstes verbreite sich das Virus unter den Jüngeren, die viele soziale Kontakte haben. Doch dann steckten sich auch die Älteren an – und sorgten für den Zustrom in die Krankenhäuser.

Überdies sollte der Schutz der Spitäler vor Überlastung nicht das einzige Ziel sein, fügt der Experte an. Je stärker das Virus bei steigender Impfrate zirkuliere, desto eher bilde es Mutationen aus, die ansteckender seien und die Immunisierung unterlaufen könnten: "Auch deshalb ist es sinnvoll, die Inzidenzrate niedrig zu halten."

Mehr Tests, mehr Fälle

Aber bietet diese nicht per se ein verzerrtes Bild? Auch dafür glaubt Wallner Hinweise zu erkennen. Die registrierte Infektionsrate sei in Vorarlberg wohl auch deshalb so stark gestiegen, weil seit der Gastronomie-Öffnung besonders viele Tests vorgenommen haben.

Wer mehr testet, findet mehr positive Fälle: Was so logisch klingt, sei tatsächlich komplizierter, sagt Klimek. Die Zahl der Tests beeinflusse die Inzidenzrate, doch in welchem Ausmaß, hänge vom Setting ab. Im Fall Vorarlbergs sieht er aber einen klaren Beleg, dass die steigende Rate sehr wohl das reale Infektionsgeschehen widerspiegle: Schließlich ist der Anteil der positiven Fälle an den Tests ebenfalls gestiegen.

Seine Conclusio: Die Sieben-Tage-Inzidenz eigne sich nur bedingt, um Länder zu vergleichen, dafür sollten immer auch die Todeszahlen und Spitalsauslastung mitbetrachtet werden. Doch eine Richtschnur für politische Entscheidungen biete der Wert jedenfalls: "Es gibt keinen Grund, ihn zu beerdigen." (Gerald John, 29.4.2021)