"Merkwürdig, ich erinnere mich ausschließlich an Atmosphären", sagt die Berliner Autorin. In ihrem zweiten Roman geht es viel um Erinnerungen und darum, wie verschieden diese sein können.

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"Diese Ich-Erzählerin hat etwas an sich, das ist alterslos", sagt Judith Hermann an einer Stelle unseres Gesprächs, die in der gedruckten Version gar nicht mehr vorkommt. Das sei aber etwas, das wir alle haben. "Ich bin irgendwo bei 37 stehen geblieben", sagt sie, ihre Haare wie immer in all den Jahren hochgesteckt, wache Augen, ein freundliches Gesicht, das manchmal nachdenklich wird, bevor sie auf eine Frage antwortet.

Dass man sich nicht mehr so fühlt, wie man aussieht, sei eigentlich schön, sagt Hermann, mittlerweile fünfzig, vor ihrem Bildschirm sitzend. Hinter sich die weiße Wand einer Altbauwohnung, in dem Türrahmen hinter ihr hängt windschief ein kleiner Traumfänger. "Das ist so, als hätte man zwei Existenzen. Als Kind hat man sich immer gewünscht, dass man unsichtbar ist", erklärt sie. In diese Richtung gehe das ein bisschen.

Wir haben uns 2009 schon einmal getroffen, für ein Gespräch in Berlin-Mitte, zu einer Zeit, als Journalisten noch wegen eines Interviews in eine andere Stadt geflogen sind. Passend, dass es in ihrem neuen Roman Daheim auch um Erinnerung geht. Damals hatte Hermann erzählt, dass sie gerade mit dem Rauchen aufgehört hat. Etwas, das sie und ihr Schreiben beeinträchtigt hat.

STANDARD: Es macht Ihnen offensichtlich wieder viel Freude, über rauchende Menschen zu schreiben.

Hermann: Ich rauche schon lange nicht mehr, aber das Rauchen fehlt mir auf eine bestimmte Weise immer noch. Vielleicht klingt das komisch, aber ich liebe Rauch, seitdem ich nicht mehr rauche, brennt auf meinem Schreibtisch immer ein japanisches Räucherstäbchen. Wenn ich dem Rauch zusehe, denke ich ein bisschen gelöster. Ich bin immer noch gerne mit rauchenden Menschen zusammen, aber sie sind deutlich weniger geworden. Mit diesem aktuellen Buch hatte ich das Gefühl, ich habe das mit dem Aufhören überstanden, also dürfen die Menschen wieder rauchen.

STANDARD: Die Kurzgeschichte, die Sie an den Anfang Ihres Romans stellen, handelt vom Leben Ihrer Ich-Erzählerin vor 30 Jahren. Sind diese 30 Jahre in etwa auch die Zeitspanne, in der Sie literarisch schreiben?

Hermann: Ja, in etwa. Ich habe mit dem Schreiben angefangen, als ich Mitte zwanzig war. In den Jahren davor war ich auf der Suche, habe Dinge angefangen und wieder abgebrochen, so wie alle vermutlich, aber im Rückblick habe ich mich wohl auf das Schreiben zubewegt. Es gab viel Scheitern, ganz eigentlich wollte ich zunächst Schauspielerin werden.

STANDARD: Diese Ich-Erzählerin aus "Daheim" arbeitet als junge Frau in einer Zigarettenfabrik. Das hat tatsächlich einen autobiografischen Konnex?

Hermann: Ich habe tatsächlich als Studentin in der riesigen Zigarettenfabrik von Philip Morris in Berlin-Neukölln gearbeitet, ja. Allerdings nicht an der Maschine, sondern, wie die Ich-Erzählerin dann später auch, als eine Art Hostess, ich habe Gruppe durch die Fabrik geführt.

STANDARD: Gab es diese Kurzgeschichte schon vor dem Roman?

Hermann: Ja, der Roman ist aus der Kurzgeschichte entstanden. Ich hatte genaue Vorstellungen, wo sie anfängt, was sie erzählt und wie sie aufhört. Aber schon während ich sie schrieb, wusste ich auch, dass ich sie weiterschreiben würde. Ich wollte erzählen, was aus dieser Ich-Erzählerin wird – was tut sie, wenn sie nicht nach Singapur geht? Ich wollte ihr nah bleiben, und ich wollte etwas von ihr wissen. Ich erinnere mich daran, was ich mit 24 Jahren gemacht habe, aber ich erinnere mich zugleich an mich selbst auch wie an eine vollständig Fremde. Ich wollte einen Bogen schlagen aus einer Vergangenheit zu einer Figur im Hier und Jetzt.

STANDARD: Ist die Protagonistin aus Daheim jetzt, mit knapp 50, eine Aussteigerin?

Hermann: Eine Aussteigerin ist sie nicht. Das Wort Aussteigen assoziiere ich mit etwas Hippiehaftem, mit einem krassen Wechsel der Lebensumstände, des Kontinents, der Sprache. All das tut sie nicht, sie bleibt in ihrem Sprachraum, bei ihrer Familie, bei ihrem Bruder, für den sie arbeitet. Kennen Sie das Album Wanderer von Cat Power? Ich muss beim Zuhören viel an diese Figur denken, meine Erzählerin tut das auch – sie wandert.

STANDARD: Alle Figuren in Ihrem Roman tragen sehr ausgesuchte Namen: Ann, Otis, Arild, Mimi, Nike etc. Die Ich-Erzählerin bleibt ohne Namen. Warum?

Hermann: Um ihr einen Namen zu geben, hätte eine andere Figur sie ansprechen müssen, das habe ich nicht gewollt. Die Namenlosigkeit ist auch ein Schutzraum, ich erzähle ja von einer Frau, die sehr bei sich bleibt. Das, was man von ihr erfährt, erfährt man durch das, was um sie herum passiert. Ich weiß, wie sie heißt. Und ich glaube, das reicht aus.

"Dass die Ich-Erzählerin so gut loslassen kann, liegt auch an ihrer Tochter Ann, die klar darauf fixiert ist, dass sie jetzt losgeht."
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STANDARD: Im Roman geht es auch um Erinnerung. Otis, der Ex-Mann, mit dem die Ich-Erzählerin eine Tochter hat, hat ein unglaubliches Erinnerungsvermögen. Beneiden Sie ihn?

Hermann: Ja und nein. Menschen mit einem Elefantengedächtnis haben ein reicheres Leben, oder? Aber Enttäuschungen, Kummer, Trennungen – all das Schwere bekommt mehr Gewicht. Merkwürdigerweise erinnere ich mich ausschließlich an Atmosphären, und manchmal bedauere ich das, und manchmal bin ich darüber froh.

STANDARD: Merkwürdig ist auch Ihr Romanpersonal. Im Kern ist es eine untereinander eigenartig verbundene Wahlverwandtschaftsfamilie, die aus zwei Geschwisterpaaren und einem knapp über 20-jährigen Heimkind besteht. Im Buch scheinen sich das Schreckliche und das Schöne über 200 Seiten immer die Waage zu halten. War das eine Intention Ihrer Geschichte?

Hermann: Ich habe das ähnlich empfunden. An einer Stelle sagt die Ich-Erzählerin: Fast alles im Leben scheitert, und das klingt zunächst bitter. Aber aus dem Scheitern erwächst auch Neues, etwas Unbekanntes. Schwierige Situationen können in unerwartet magische Momente münden – und umgekehrt. Ab einem bestimmten Stadium im Text gehen die Figuren voran, und ich kann ihnen nur folgen. Sie entscheiden, wohin sie gehen, und ich muss sehr vorsichtig sein, dass sie sich nicht auflösen.

STANDARD: In "Daheim" geht es auch um sehr schmerzvolle Kindheitserinnerungen. Soll man mit ihnen irgendwann abschließen?

Hermann: Ich glaube, dass man mit den Kindheitserinnerungen nicht abschließen kann. Man kann nur versuchen, die Perspektive zu wechseln. Ich denke weniger über meine Kindheit nach und stattdessen mehr über meine Eltern. Wie alt waren sie, als ich ein Kind war? Im Rückblick vergleiche ich das mit mir. Meine Eltern hatten drei Kinder, aber sie hatten auch ein Leben außerhalb von uns. Manches bleibt schwierig, aber ich bin nicht mehr so zornig.

STANDARD: Dieses "Hätte schiefgehen können. Ist es aber nicht" kommt im Buch immer wieder vor. Ist das nicht ein unglaublich tröstlicher Gedanke, auch in Hinsicht auf die eigenen Kinder?

Hermann: Klar. Ich mache mir unentwegt Sorgen. Zur eigenen Beruhigung denke ich an all die Situationen in meinem Leben, die gutgegangen sind. Zauberkistensituationen ohne Zahl. Ich muss darauf vertrauen, dass mein Sohn seinen Weg machen wird, durch Dinge durchgeht, von denen ich gar nichts weiß. Dass die Ich-Erzählerin so gut loslassen kann, liegt auch an ihrer Tochter Ann, die klar darauf fixiert ist, dass sie jetzt losgeht. Diese Autonomie der Tochter macht es der Mutter leichter, sie gehenzulassen.

STANDARD: Was ist mit denen, die abhandenkommen, die es nicht schaffen wie Nike, die junge Freundin des Bruders der Erzählerin, die als Kind in eine Kiste gesperrt wurde?

Hermann: Ja, das ist eine schwierige Frage. In meinem Buch ist Nike die moderne Nixe, sie ist ein wenig so etwas wie eine Heilige, sie findet ein schreckliches Ende, aber sie hat auch etwas Mystisches, sie ist ganz frei. Diese Freiheit hat einen Preis. Ich wollte die Figur aufheben und beschützen.

STANDARD: Das Leitmotiv der Kiste zieht sich durch den ganzen Roman. Glauben Sie, dass wir alle längst in einer Falle sind, aus der es kein Herauskommen mehr gibt?

Hermann: Ich glaube schon, dass wir uns in eine sehr schwierige Lage hineinmanövriert haben. Ob diese Lage eine Falle ist? Wir sind im Umgang mit den ganz selbstverständlichen Dingen alle gescheitert. Und ob eine Umkehr überhaupt möglich ist, weiß ich nicht. Ich glaube, dass ein verändertes Bewusstsein Veränderungen mit sich bringt. Aber ob diese Veränderungen ausreichen werden, möchte ich bezweifeln.

STANDARD: Der Ort, an dem die Frau gestrandet ist, liegt am Meer, dessen Spiegel steigt, es gibt keinen Regen, der Mann, mit dem sie eine Beziehung eingeht, ist ein Bauer, der Schweine in Massentierhaltung hat. Sie beschreiben ohne Fingerzeig eine kaputte Welt.

Hermann: Natürlich beschäftigt mich der Klimawandel, die Umweltkatastrophe, die Lage der Welt. Die Frage war: Wie nehme ich all das mit in meinen Text? Ich konnte und wollte kein politisches Buch schreiben, aber ich wollte schreiben, dass diese Figuren um diese Dinge wissen. Es wäre nicht mehr möglich gewesen, ein Buch zu schreiben, in dem all das nicht vorkommt. Aber es war eine Zwickmühle, weil das Anthropozän auf den ersten Blick nicht poetisch ist. Ein Stall mit hunderten Schweinen ist nicht poetisch. Verseuchte Felder sind nicht poetisch. Das alles mitzunehmen und dennoch auf eine gewisse Atmosphäre zu bestehen war eine Herausforderung.

STANDARD: Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie zum Schreiben rund um sich herum heile Verhältnisse brauchen. Was haben Sie im Pandemiejahr gemacht?

Hermann: Ich hatte das Glück, dass ich eine Einladung für die Frankfurter Poetik-Dozentur bekommen habe. Ich darf mir also Gedanken über meine eigene Arbeit machen, das ist schwer, aber jetzt gerade ist es ein Geschenk. Ich hätte nicht einfach an einem neuen Buch arbeiten können, weil ich auf das Erscheinen dieses Buches ja doch sehr gewartet habe.

STANDARD: Das Buch hätte viel früher erscheinen sollen?

Hermann: Das Buch war im Februar 2020 fertig. Ich war bei meinem Lektor in der Bretagne, und ich erinnere mich an die Rückreise, an ein Umsteigen in Paris, an den Streik der Gelbwesten und an eine Fahrt in einem unfassbar vollen Bus. Daran muss ich heute oft denken – damals war ich das letzte Mal vielen anderen Menschen extrem nah. Und heute ist das eine vollkommen absurde Vorstellung.

STANDARD: Gibt es bei Ihnen jetzt, später, ein Sommerhaus?

Hermann: Das gibt es tatsächlich und schon lange, ja. Durch Corona und die Tatsache, dass mein Sohn groß ist, bekommt dieses Haus gerade noch mehr Bedeutung. Ich hab den ganzen Winter dort verbracht, ziemlich zurückgezogen – ich habe während dieser Monate dreimal so viel gelesen wie sonst. Ich schreibe die gelesenen Bücher immer in einen Kalender, im vergangenen Jahr haben die Seiten dafür nicht gereicht. Ich empfinde Bücher immer als tröstlich, aber so existenziell wichtig wie in diesem Jahr waren sie noch nie.

STANDARD: Wo ist Ihr "Daheim"?

Hermann: Ich glaube, es gibt zwei. Das eine ist Berlin, meine Familie lebt hier, meine Eltern, meine Geschwister. Das ist ein zentrales Daheim, ein Ort mit einer starken Wurzel, aber auch ein ambivalentes. Und das zweite ist wohl das Haus an der friesischen Nordseeküste.

STANDARD: Sie wurden als Autorin immer eng mit Ihrer Generation verknüpft. Es ist schön, mit Ihren Büchern älter zu werden. Woran denken Sie, wenn Sie an Ihre Leserschaft denken?

Hermann: Wenn Sie das so sagen, macht mich das froh – es ist schön, dass meine Bücher einen Leser über die Jahre hinweg begleiten können. Aber beim Schreiben denke ich überhaupt nicht an einen möglichen Leser. Für das Schreiben ist es überlebensnotwendig, den Leser draußen zu lassen. Beim Schreiben möchte ich so allein wie irgend möglich sein.

STANDARD: Finden Sie, dass der Literaturbetrieb mit Ihnen auch ungerecht umgegangen ist, nachdem Sie zu Beginn ja fast zu Tode gelobt worden waren?

Hermann: Hm. (Sie macht eine wirklich längere Pause, Anm.) Ich fand den Literaturbetrieb natürlich schon ungerecht, ja. Aber ich fand meinen anfänglichen Erfolg auch nicht gerecht. Ich war 28, ich war jung, aber alt genug, um zu wissen, dass es so nicht bleiben wird. Was ich schwierig fand, war das erstaunlich Persönliche in den Kritiken zu Aller Liebe Anfang. Tatsächlich Hass, die extremen Verrisse kamen fast immer von Männern, und die Frauen im Betrieb sind mir auf zweifelhafte Weise zur Seite gesprungen. Ich fühlte mich – beinahe verstoßen. Aber dann auch vogelfrei: niemandem und nichts verpflichtet. Es hat mich robuster gemacht, einen Abstand potenziert. Umso schöner ist die Nominierung für die Leipziger Liste.

STANDARD: Essen Sie noch täglich einen Apfel?

Hermann: Ja, das ist seit dem Nicht-mehr-Rauchen tatsächlich so geblieben.

STANDARD: Was ist heute wichtiger als früher?

Hermann: Schlaf! Schlaf ist unglaublich wichtig. Ich zähle die Stunden, die ich schlafe. Wenn ich nicht genug schlafe, habe ich keine guten Nerven. Wenn ich keine guten Nerven habe, kann ich nicht gut arbeiten. Ich muss vor allem darauf achten, dass mir der Schlaf gelingt.

STANDARD: Fanden Sie es beim Schreiben auch so schade wie ich beim Lesen, dass Ihr Roman nach 200 Seiten schon zu Ende war?

Hermann: Ich glaube, ich war vor allem erleichtert, aber zugleich auch wehmütig, ich war gerne in diesem Buch, ich war mit diesen Figuren sehr gerne zusammen. Ich war beim Schreiben glücklich. Jetzt bedaure ich manchmal, dass ich dieses Buch schon geschrieben habe. Ein Buch, in dem ich diese merkwürdigen Jahre um die 50 beschreibe – noch einmal werde ich das nicht machen. Schade, dass es schon vorbei ist. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 29.4.2021)