Kessler will mehr Frauen für die Technik begeistern. 500 Männer waren bisher im Weltraum, aber nur 60 Frauen. Eine von ihnen ist Christina Koch – im Bild beim ISS-Einsatz 2019.

Foto: EPA/NASA HANDOUT

Seit mehr als dreißig Jahren verfolgt Claudia Kessler alles, was im Weltall passiert: die Erforschung des Mondes, die wachsende Zahl an Satelliten, Raumstationen und Sonden, die ins All geschickt werden. Nur eines sieht die Ingenieurin für Luft- und Raumfahrttechnik eher selten: Frauen, die ins All fliegen. Geht es nach Kessler, sind Frauen in der Raumfahrt immer noch stark unterrepräsentiert. Mit ihrer Initiative "Die Astronautin" will Kessler künftig Frauen dabei helfen, als Astronautinnen ins All zu fliegen.

STANDARD: Frau Kessler, woher kommt Ihre Begeisterung für das Weltall?

Kessler: Ich bin Generation Mond – ich war vier Jahre alt, als ich vor dem kleinen Fernseher im Wohnzimmer meiner Eltern stand und die Mondlandung miterlebte. Seitdem war für mich klar: Da will ich hin. Diese Begeisterung hat sich mein ganzes Leben gehalten.

STANDARD: Warum ist aus Ihrem Traum, Astronautin zu werden, bis jetzt nichts geworden?

Kessler: Astronautenauswahlen sind in Europa relativ selten – die letzte war 2009, davor in den 1980ern. Damals war ich noch zu jung. 2009 war ich schon zu alt, ich hatte das Maximalalter, das damals bei 37 Jahren lag, überschritten. Bei der aktuellen Ausschreibung wurde das Maximalalter auf 50 erhöht, aber auch das habe ich nun überschritten.

STANDARD: Sie haben Maschinenbau und später Luft- und Raumfahrttechnik studiert. Schon als Studentin hat man Sie gefragt, wie es ist, als Frau in diesem Bereich zu arbeiten. Was hat sich 30 Jahre später an der Situation geändert?

Kessler: Die Zahl der Mädchen und Frauen in dem Bereich ist stark gestiegen. Als ich in den 1980er-Jahren studiert habe, gehörte ich zu dem einen Prozent an Frauen. Mittlerweile liegen wir zumindest bei fünfzehn bis zwanzig Prozent. Viele Firmen im technischen Bereich haben begonnen, aktiv nach Ingenieurinnen zu suchen und diese zu fördern.

STANDARD: Mit ihrer Initiative "Die Astronautin" setzen Sie sich dafür ein, dass mehr Frauen ins Weltall fliegen. Warum?

Kessler: Der Weltraum ist wohl das am wenigsten erforschte Gebiet, das es noch gibt. Auf unserer Erde haben wir – die Tiefen der Ozeane ausgenommen – das meiste schon erforscht. Wir können im Weltall viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen, auch in Hinblick auf den weiblichen Körper. Zum anderen haben Astronautinnen eine unglaubliche Vorbildfunktion. Das kann Frauen in der Technik klarmachen, dass sie an ihre eigenen Stärken glauben, dass sie alles erreichen können und dass sie auch im technischen Bereich sehr gut sein können. Gleichzeitig soll sich dadurch die Anzahl von Frauen in der Technik weiter erhöhen. Das ist kein Selbstzweck. Denn ganz häufig geht es dabei um Entwicklungen des täglichen Lebens, in die Frauen bisher wenig eingebunden sind.

STANDARD: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sollen durch mehr Astronautinnen im Weltall gewonnen werden?

Kessler: Es geht zum einen um die medizinische Forschung, um besser zu verstehen, wie sich unser Körper in der Schwerelosigkeit verhält. Es gibt dazu schon viele Daten von Männern, denn über 500 Männer waren im All, aber wenig Daten zu Frauen, weil bisher nur knapp 60 Frauen im All waren. Diese Daten braucht man nicht nur, um Langzeitmissionen zum Mars durchzuführen, sondern auch für Forschungen und Therapien auf unserer Erde, beispielsweise wenn es um unser Gleichgewichtsorgan geht, unser Herz-Kreislauf-System, aber auch die Sehfähigkeit. Bei Frauen spielt auch die Osteoporose eine Rolle, die in der Schwerelosigkeit im Weltraum sehr schnell einsetzt und die mithilfe von mehr Daten besser therapiert werden kann.

STANDARD: In Europa ist die Europäische Weltraumorganisation (kurz: ESA) für die Erforschung des Weltraums zuständig. Wie sehr achtet die Organisation auf den Frauenanteil in ihrer Arbeit?

Kessler: Die Diversität ist heute weit wichtiger als früher. Trotzdem ist es immer noch so, dass von den elf Direktoren zehn Männer sind. Ich begrüße die aktuelle Initiative der Esa, ganz aktiv nach Astronautinnen zu suchen. Wenn es nach mir ginge, müsste jetzt ein reines Frauenteam ausgewählt werden. Es wäre ein wichtiges Zeichen.

STANDARD: Sie haben sich schon als Studentin für den Klima- und Umweltschutz engagiert, sind überzeugt, dass auch die Raumfahrt etwas dazu beitragen kann. Inwiefern?

Kessler: Wer als Astronaut ins All geht, bekommt das sogenannte Erdoberflächengefühl. Das ist das Gefühl, dass unsere Erde Teil des Universums ist, dass alles miteinander zusammenhängt. Man begreift, wie dünn eigentlich unsere Atmosphäre ist – rund 60 bis 80 Kilometer – und wie sehr wir unseren Planeten schützen müssen.

STANDARD: Immer mehr Unternehmen versprechen, bald wesentlich mehr Menschen ins All zu schicken und damit den Weltraumtourismus voranzutreiben. Ist das realistisch?

Kessler: Ich fürchte, dass es mit den Raketen, die wir derzeit haben, noch eine ganze Weile dauern könnte, bis die Preise für Sie und mich erschwinglich sind – denn im Augenblick liegen sie noch bei etwa 50 Millionen Euro pro Flugticket. Die Hauptgründe dafür sind die lange Entwicklungszeit und die hohen Sicherheitsvorkehrungen. Ich bin trotzdem optimistisch, dass immer mehr Menschen ins All fliegen werden. Das ist begrüßenswert, denn je mehr Menschen ins All fliegen, desto stärker hätten wir ein übergreifendes Bewusstsein für unsere Erde.

STANDARD: Gleichzeitig haben Weltraumraketen auch keinen geringen ökologischen Fußabdruck. Könnte der Weltraumtourismus für die Umwelt künftig nicht problematisch werden?

Kessler: Der Großteil des Treibstoffs der Raketen besteht heute schon aus Wasserstoff und Sauerstoff, daraus entsteht dann nur Wasser als "Abfallprodukt". Wir arbeiten auch in der Raumfahrt an grünen Technologien, um zum Beispiel mit algenbasierten Treibstoffen ins All zu fliegen. Außerdem werden immer mehr Raketen wiederverwendbar.

STANDARD: Immer wieder hört man auch vom wachsenden Problem des Weltraummülls. Wie groß ist das Problem?

Kessler: Das Problem ist nicht so gravierend, wie es sich anhört, weil der Weltraum am Ende doch sehr groß ist. Es ist natürlich eine Gefahr für die Internationale Raumstation, weil einer dieser alten Satellitenteile einschlagen und einen großen Unfall verursachen könnte. Alle Teile, die größer als ein Zentimeter sind, werden von der Erde aus überwacht. Der Vorteil ist, dass sich dieser Müll auf Kreisbahnen befindet, die sich kaum ändern, wodurch er sich gut im Blick behalten lässt. Am intelligentesten wäre es sicher, künftig eine Wiederaufbereitungsanlage im All zu schaffen, wo man aus den Teilen, die schon im All sind, neue Satelliten bauen kann.

STANDARD: Kaum ein Planet wird derzeit so intensiv erforscht wie der Mars. Was erwarten Sie sich von den Erkenntnissen?

Kessler: Man geht davon aus, dass der Planet einmal weit bewohnbarer und lebensfreundlicher war, als er es heute ist. Indem wir den Planeten erforschen, könnte uns das auch Aufschlüsse über den Ursprung des Lebens und den Entwicklungen auf unserem eigenen Planeten liefern.

STANDARD: Unternehmer wie der Tesla-Gründer Elon Musk prophezeien, dass wir bald permanente "Kolonien" am Mars errichten könnten. Wie realistisch und sinnvoll sind seine Visionen?

Kessler: Ich würde gern zu den ersten Menschen gehören, die den Mars bewohnen. Aber leider fürchte ich, dass wir frühesten um 2040 herum die Technologien so weit haben werden, dass astronautische Missionen zum Mars möglich sein werden. Die Menschen streben immer danach, Neues zu entdecken und zu erforschen, und so ist es ein ganz natürlicher Prozess, dass wir unseren Lebensraum ins All und bis zum Mars erweitern werden.

STANDARD: Bis jetzt ist noch nichts aus Ihrem Wunsch geworden, ins All zu fliegen. Haben Sie Ihren Traum bereits aufgegeben?

Kessler: Nein, ganz sicher nicht. Es fliegt nächstes Jahr zum ersten Mal eine kommerzielle Crew mit Space X zur Internationalen Raumstation. Einer der Astronauten, die dort mitfliegen, ist 77 Jahre alt. Das bedeutet: Auch für mich gibt es noch Hoffnung.

STANDARD: Wo würden Sie hinfliegen, wenn Sie die freie Wahl hätten?

Kessler: Ich würde gerne zum Mond fliegen und mir von dort den Sonnenaufgang anschauen. Das wäre sicher ein Erlebnis. (Jakob Pallinger, 6.5.2021)