Die hier magentafarben dargestellten Schwann-Zellen können Neuroblastom-Zellen (grün) anregen, ihr bösartiges Wachstum zu stoppen. Die Aufnahme entstand mittels Immunfluoreszenz.
Foto: Weiss T., Taschner-Mandl S. et al., „Nature Communications“ 2021

Einen bösartigen Tumor in einen gutartigen verwandeln – das würde bei vielen Krebsformen massiv helfen. Immerhin versterben zahlreiche Patienten infolge der Metastasen, die sich durch bösartige Tumore in anderen Teilen des Körpers bilden. Nun ist es Wiener Grundlagenforscherinnen bei einer bestimmten Krebsart gelungen, erste Hinweise auf eine solche Entwicklung zu finden.

Das Team um Sabine Taschner-Mandl von der St. Anna Kinderkrebsforschung und Tamara Weiss von der Med-Uni Wien befasste sich für diese Studie mit Neuroblastomen. Dabei handelt es sich um bösartige Nerventumore außerhalb des Gehirns. Neuroblastome entstehen bereits bei der Embryonalentwicklung: Es sind unreife Nervenzellen, die sich unkontrolliert vermehren und die es so bei Erwachsenen nicht mehr gibt. Daher betrifft der Tumor in der Regel Kinder, das Durchschnittsalter liegt bei zwei Jahren.

Therapie bei ernsten Fällen

Das Neuroblastom ist die dritthäufigste bösartige Neubildung bei Kindern, und: "Es unterscheidet sich in der Ausprägung stark", sagt Taschner-Mandl, Leiterin der Forschungsgruppe für Tumorbiologie. "Es gibt gutartig verlaufende Neuroblastome, sehr aggressive, und alles dazwischen." Während bei nicht-aggressiven Fällen oft nur beobachtet oder mild therapiert wird, müssen Patienten mit bösartigen Tumoren häufig durchgehend über zwei Jahre behandelt werden.

Die Palette umfasst in der Regel Chemotherapie, Operationen, Stammzelltransplantationen und Immuntherapie – mit der Hoffnung, dass sich das bösartige Wachstum einstellt. "Leider sprechen ungefähr fünfzig Prozent der aggressiven Formen gar nicht gut auf die Therapie an", sagt Taschner-Mandl.

Rollenwechsel zum Reparateur

Daher ist es ihr ein Anliegen, durch Grundlagenforschung auszuloten, in welche Richtung sich in der Zukunft Therapien entwickeln könnten. Beim Vergleich der Neuroblastom-Typen fällt auf: "Gutartige Formen haben eine spezielle Eigenschaft – sie können sogenannte Schwann-Zellen in den Tumor hineinholen", sagt die Molekularbiologin. Diese Schwann-Zellen sorgen im Körper normalerweise dafür, dass der lange Fortsatz von Nervenzellen ummantelt wird. Das funktioniert ähnlich wie bei einem Kabel, das isoliert wird, damit der elektrische Impuls nicht verloren geht.

Die Erstautorinnen der Studie: Tamara Weiss (links) und Sabine Taschner-Mandl
Foto: St. Anna Kinderkrebsforschung

Allerdings ist das nicht die einzige Aufgabe, der sie sich widmen: "Schwann-Zellen können ihren zellulären Zustand verändern, sich also wie zu Halloween oder im Fasching verkleiden und in verschiedene Rollen schlüpfen", erklärt Taschner-Mandl. Kommt es zum Beispiel durch eine Verletzung wie einen Schnitt in den Finger zu Nervenschäden, können Schwann-Zellen die Rolle einer Krankenschwester oder eines Reparateurs übernehmen. Diese Reparatur-Schwann-Zellen helfen den Nerven, wieder zusammenzuwachsen.

Wenig erforschter Wachstumsfaktor

Aus diesem Grund ist der Zelltyp auch für die rekonstruktive Chirurgie interessant. Als Leiterin eines entsprechenden Forschungslabors befasst sich Tamara Weiss eingehend mit Schwann-Zellen und ihrer Rolle bei der Regeneration, in Nervenkrankheiten und Tumoren. Warum treten die Zellen aber so häufig in den gutartigen Neuroblastomen auf? Diese Frage konnte das Forschungsteam nun im Fachjournal "Nature Communications" beantworten. "Wir konnten sehen, dass sich die Reparatur-Schwann-Zellen und jene im gutartigen Tumor erstaunlicherweise sehr ähneln", sagt Weiss.

Tatsächlich produzieren beide den Wachstumsfaktor EGFL8 – ein Protein, das namentlich bekannt war, dessen genaue Funktion jedoch beim Menschen bislang nicht erforscht wurde. Die Wissenschafterinnen stellten in ihrer umfassenden Analyse fest, dass das Protein die Reifung der Neuroblastom-Zellen anregt. Das bedeutet, es zwingt die Zellen zu einem Rollenwechsel; daraufhin entwickeln sie sich so, als ob sie zu Neuronen werden wollten. Dadurch werden sie in ihrem bösartigen Wachstum gestoppt.

Anwendung in ferner Zukunft

Von einer potenziellen Anwendung bei Patienten ist das Ganze noch weit entfernt. Andere Wachstumsfaktoren, die ähnlich zur Neuronenentwicklung beitragen, lösen etwa Schmerz aus und sind dadurch therapeutisch ungeeignet. Die Nebenwirkungen von EGFL8 müssen noch erforscht werden. Die Arbeit zeigt außerdem, wie sich das Molekül in dem komplexen Geschehen in Tumorzellen verhält. Diese Signalwege könnten weitere Ansätze für Therapien liefern.

Die bisherigen Experimente wurden in Zellkulturen mit Neuroblastom-Zellen und Nerven, die jeweils bei Operationen entfernt wurden, durchgeführt. In Zukunft stünden weitere Studien und Versuche in Tiermodellen an, um die mögliche Wirkung als Therapeutikum zu testen.

Rekonstruktive Chirurgie

Neben der Tumorbehandlung wäre eine Anwendung bei gröberen Nervenverletzungen interessant: "Wenn ein Nerv nicht nur durchtrennt wird, sondern ein ganzes Stück fehlt, kann man Leitstrukturen als Überbrückung einführen. Hier braucht man Faktoren, die die neuronale Differenzierung und Regeneration fördern", sagt Weiss.

In aktuellen Projekten gehen die Forscherinnen weiter der Flexibilität der Schwann-Zellen auf den Grund. Diese scheinen nämlich nicht ausschließlich für Neuronen wichtig zu sein, sondern darüber hinaus mit Immunzellen zu interagieren und sie zu beeinflussen. Obwohl Schwann-Zellen selbst keine klassischen Immunzellen sind, können sie ebenfalls in deren Rolle schlüpfen und manche Aufgaben übernehmen. Als Verwandlungskünstler sind sie etwa in der Lage, Phagozytose zu betreiben – also abgestorbene Zellen aufzunehmen und so auch noch als Aufräumprofi durchzugehen. (Julia Sica, 4.5.2021)