Konrad Paul Liessmann, der Zarathustras "Mitternachtslied" lauscht: "Von Friedrich Nietzsche lernt man, keine Angst zu haben."

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Sein neues Buch soll nicht einfach ein weiterer Beitrag zur Nietzsche-Sekundärliteratur sein. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann gewinnt aus zwölf schlichten Versen Ansichten über die tiefenstrukturelle Verfasstheit von Mensch, Nacht und Welt. Denn, wie Nietzsche sagt: "Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit."

STANDARD: In "Alle Lust will Ewigkeit" meditieren Sie über Nietzsches Mitternachtslied aus "Also sprach Zarathustra": "Oh Mensch! Gieb Acht! ..." Die Rede ist vom Erwachen. Hat das mit der pandemischen Schlaf- und Traumbefangenheit unserer Gesellschaft zu tun?

Liessmann: Die Motivation zur Beschäftigung mit Nietzsches "Trunkenem Lied" rührt her aus der Zeit vor dem Ausbruch der Pandemie. Sie geht auf die Idee zurück, eine Vorlesung über Nietzsches Text zu halten. Auf der anderen Seite begleitet mich dieses Lied seit langem. Bevor ich den Zarathustra wirklich studiert habe, kannte ich es bereits durch Gustav Mahlers Vertonung in seiner dritten Symphonie. Erst nach der Beobachtung, dass die Verse bei Nietzsche durch Schläge der Mitternachtsglocke eingeleitet werden – ein Umstand, der bei Mahler keine Rolle spielt –, dachte ich mir, es lohne sich vielleicht, darüber nachzudenken.

STANDARD: Die Pandemie spielt keine Rolle?

Liessmann: Ich gebe gerne zu, geschrieben wurde das Buch während des ersten Lockdowns. Die pandemische Situation hat dann den Blick für einige Fragen geschärft. Zu den interessanten Erfahrungen dieser Pandemie gehört ja, dass wir Nächte plötzlich wieder anders wahrnehmen als vorher, einfach weil es am Abend und in der Nacht nichts zu tun gibt. Schon gar nicht im urbanen Bereich, der sonst bis nach Mitternacht durch seine Gast- und Kulturstätten voller Lebendigkeit war.

STANDARD: Sie beklagen einen grundsätzlichen Verlust an Nächtigkeit. Überall werde "Lichtverschmutzung" spürbar.

Liessmann: In der Tat hatten wir doch kaum mehr einen Begriff von Nacht. Durch die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen, die es eine Zeitlang gab, wurde uns dieser wieder bewusst. Man war plötzlich auf die Finsternis zurückverwiesen – auch dann, wenn man zu Hause, in den eigenen vier Wänden, mithilfe der Bildschirme alles taghell erleuchtete.

STANDARD: Enthält die Pandemie die Chance, uns durch Ruhigstellung zu einer Erhöhung der Sensibilität zu verhelfen?

Liessmann: Das gilt nicht für jede Krise, sondern für Zäsuren und Unterbrechungen, die mit Stillstand verbunden sind. Erinnern wir uns an die Finanzkrise von 2008 zurück: Krise bedeutete damals, eine unglaubliche Hektik an den Tag zu legen. Ständig reiste irgendeine EU-Troika irgendwohin, um Verhandlungen zu führen. Die jetzige Pandemie provoziert das Gegenteil. Jeder, der kann, bleibt bei sich zu Hause im Homeoffice. Solche Zäsuren, die mit Stillstand verbunden sind, ermöglichen, wenn man von keinen unmittelbaren Lebensnöten getroffen ist, eine distanzierte Betrachtung jener Phänomene, in die man ansonsten permanent involviert ist. Wir reflektieren zurzeit etwa die hochinteressante Frage: Was oder wer ist systemrelevant? Dieses Wort stand früher gar nicht in Gebrauch. Die große Frage lautet: Welche Bedeutung messen wir Kunst und Kultur bei? Was bedeutet es, Theater und Opernhäuser stillzulegen?

STANDARD: Wir sind substanziell angegriffen?

Liessmann: Ich würde diese Frage nicht so scharf stellen. Man kann auch die gegenteilige These vertreten – wenigstens als Gedankenspiel, wie man es von Nietzsche lernen kann, der ja keine Angst vor gewagten Diagnosen hatte. Sie könnte demnach lauten, dass uns erst die Pandemie so richtig klargemacht hat, worin die eigentliche Wertigkeit künstlerischer Aktivitäten liegt. In den Augen mancher Kulturkritiker hatte die nun stillgestellte Eventkultur zuvor ohnehin schon überhandgenommen. Das eigentliche Ästhetische, der selbstbezügliche Gehalt von Kunst, sei Gefahr gelaufen, im Betrieb zu verschwinden.

STANDARD: Der alte Kulturindustrie-Vorwurf?

Liessmann: Gewissermaßen. Die kulturindustrielle Rahmung bricht zusammen, und was übrigbleibt, bildet den Kern, die nackte Wahrheit der Kunst. In meinem Buch reflektiere ich allerdings auch den Zusammenhang von Tiefe und Oberfläche. Und da bemerkt man, dass eine bestimmte Form von Oberflächlichkeit, von peripheren Begegnungen und atmosphärischen Stimmungen etwa im Rahmen einer Lesung, eines Konzerts, einer Ausstellungseröffnung nicht einfach suspendiert werden kann. Die Digitalisierung aller Kunst bewirkt eben nicht die Reduktion aufs Wesentliche, sondern beschneidet dieses.

STANDARD: Was bleibt dann?

Liessmann: Zwei Ausnahmen gibt es: zum einen die Musik. Seit wir es verlernt haben, Instrumente zu spielen und Noten zu lesen, sind wir zu exzessiven Musikhörern geworden. Jeder hat seine Musik permanent bei sich. Dieser Siegeszug begann vor langer Zeit, und diese Passivität hat sich jetzt in ihrer Wirklichkeit bewährt. Die zweite Ausnahme betrifft die Literatur. Die war immer dadurch gekennzeichnet, dass man sich alleine der Lektüre hingab. Eher hat es mich verwundert, dass es in der Pandemie keinen rasanten Anstieg der Buchverkäufe gab.

STANDARD: Wir müssen laut Nietzsche lernen, Ambivalenzen zu ertragen. Belegen nicht die identitätspolitischen Verwerfungen das Unvermögen, sich derartigen Zumutungen zu stellen?

Liessmann: Man muss sich dem nicht aussetzen, aber man kann. Ich finde es produktiv, sich auf Gedanken einzulassen, die einem innerlich widerstreben. Ich möchte Nietzsche nicht zu einem Ideologen verklären, dem man folgen sollte. Das geht schon deshalb nicht, weil er keine politische Botschaft verkündet. Man kann ihn politisch bloß missbrauchen. Aber mich fasziniert sein Versuch, sich selbst gegenüber rücksichtslos ehrlich zu sein. Nietzsche hat mit tiefenpsychologischen Erkenntnissen schon sehr viel früher ernst gemacht als später Sigmund Freud. Was verbirgt sich hinter unseren Anschauungen von Welt? Welche geheimen Vorstellungen, Wünsche und Affekte verdecken und beschönigen wir durch unsere Moral?

STANDARD: Nietzsche führt sie allen Ernstes auf unsere körperlichen Regungen zurück.

Liessmann: Auf unsere Physiologie, ja. Die ganze Moral, die uns heute so wichtig ist, führt er darauf zurück. Das Gute ist das, was uns schmeckt, was uns Lust bereitet; das Böse hingegen das, wovor uns ekelt: Damit ist die physiologische Grundlage allen moralischen Denkens charakterisiert. Moral ist schlechte Verdauung. Wollen wir das hören? Unter aufgeklärten Menschen war es verwerflich, einen anderen Menschen einfach ekelhaft zu finden, mit einem Brechreiz auf ihn zu reagieren. Und doch gilt in der Betroffenheitskultur unserer Zeit diese subjektive physiologische Empfindsamkeit als das entscheidende moralische Kriterium, wenn es etwa heißt: Bei dem, was du sagst, geht’s mir schlecht; deshalb ist es falsch. Das wäre durchaus im Nietzscheanischen Sinne gedacht – auch wenn das manche vielleicht nicht so gerne hören. (Ronald Pohl, 30.4.2021)