Wenn alles anders wird, braucht der Mensch neue Wörter. Seine Wahrnehmung der Realität wird durch Sprache geformt. Und deshalb braucht eine neue Realität manchmal neue Begriffe, gerade um Gefühle ausdrücken zu können. Niemand hätte 2019 etwas mit "Lockdown-Müdigkeit" anfangen können, genauso wenig wie mit "Impfneid" oder "mütend". Heute weiß man sofort, was damit gemeint ist. Zumindest die meisten.

Seit einiger Zeit zirkelt ein neues Wort in den englischsprachigen Medien herum. Es beschreibt einen seelischen Zwischenzustand. Einen Gemütszustand, hinter dem keine Depression steckt, der aber auch von "Es geht mir gut" weit entfernt ist. Das Wort beschreibt das graue, oft übersehene Niemandsland dazwischen. Der Zustand nennt sich "Languishing" – auf Deutsch ungefähr: Stagnieren, Erlahmen, Ermatten.

"Fühlen Sie sich ‚blah‘ während der Pandemie?", fragte der Organisationspsychologe Adam Grant unlängst in der New York Times (andere Medien nutzten das Wort "meh"). Die Antwort auf diese Frage ist wahrscheinlich: Wer nicht? Wer kann nach über einem Jahr Pandemie, einem Jahr Homeschooling, einem Jahr Social Distancing ehrlich behaupten, sich nicht "blah" oder "meh" zu fühlen?

Durch den Tag wurschteln

In Languishing steckt das Gefühl der Leere, des Feststeckens. Die Welt wurde angehalten und damit auch das Leben ihrer Bewohner. Es ist keine Krankheit, kein anerkanntes Syndrom. Für ein Burnout fehlt der totale Mangel an Energie, für eine Depression das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Man wurschtelt sich ziellos durch den Tag.

"Languishing" klingt zunächst wie ein Lifestyle-Begriff. Es ist aber mehr – nämlich ein Frühwarnsystem des Körpers.
Illustration: STANDARD / Armin Karner

Um ein Bild zu benutzen: Wer im Zustand des Languishing ist, der sitzt quasi in einem Boot auf einem nicht besonders gefährlichen Fluss und lässt sich einfach treiben. Die Psychologin Sheila Forman nennt es den "Blues der Pandemie", ihr Kollege Grant das "dominante Gefühl 2021".

Die Pandemie hat, darauf weisen zumindest die Psychologen hin, einen schlechten Einfluss auf unsere seelische Gesundheit. Eine große Studie, an der weltweit 70 Wissenschafter aus 21 Ländern beteiligt waren und die im April im Fachmagazin The Lancet veröffentlicht wurde, stellte einen Anstieg von Depressionen und Angstzuständen fest, insbesondere unter jungen Menschen.

Das deckt sich mit vielen anderen Studien und Umfragen, die im letzten Jahr durchgeführt wurden. Obwohl das Bild nicht immer so klar ist: Ein Anstieg der Suizide konnte, anders als befürchtet, zum Glück nicht festgestellt werden.

Schlecht für die Psyche

Eine fortbestehende Depression ist eine ernsthafte, potenziell gefährlich Krankheit, die professionell behandelt gehört. Davon ist Languishing ein gutes Stück entfernt. Ganz neu ist der Begriff im Übrigen nicht: Irgendwann in den 90er-Jahren begann die Psychologie, die sich davor eher mit psychischen Störungen oder Krankheiten beschäftigt hatte, den Blick auch stärker auf den gegenüberliegenden Teil zu werfen: Was brauchen wir, um ein erfülltes Leben zu führen?

In Languishing steckt das Gefühl der Leere, des Feststeckens.
Foto: imago images/imagebroker

Es entstand der Zweig "Positive Psychologie", der amerikanische Psychologe Corey Keyes gilt als ihr Begründer. Auf ihn geht auch das Modell des "doppelten Kontinuums der Mental Health" zurück, in dem der Begriff Languishing seinen Ursprung hat.

Erfassung der Gemütslage

Man stelle sich ein Diagramm vor, bei dem sich x- und y-Achse schneiden, also auch in die negativen Werte gehen. Die horizontale Achse beschreibt das Ausmaß meiner seelischen Krankheit (gar nicht krank bis sehr krank), die vertikale das Ausmaß meiner seelischen Gesundheit (sehr gering bis stark). Das ermöglicht eine kontinuierliche und damit genauere Erfassung der Gemütslage eines Menschen.

Nicht mehr einfach nur "gesund/krank", sondern mit mehr Kombinationen. Ich kann einen Zustand von hoher mentaler Gesundheit und niedriger Krankheit haben (der Zustand heißt "Flourishing", zu deutsch "Aufblühen", ein Gefühl von Sinn, Energie und Selbstwert). Ich kann aber auch objektiv Anzeichen einer seelischen Krankheit haben und mich trotzdem subjektiv gut fühlen.

Abwesenheit von Wohlbefinden

Und ich kann eben auch auf beiden Achsen ins Minus rutschen. Dann bin ich weder gesund noch krank. Mein Leben wird durch die Abwesenheit von Wohlbefinden bestimmt, nicht durch die Anwesenheit von Krankheit und ihren Symptomen. Das ist Languishing.

Zugegeben, das klingt wie ein Lifestyle-Begriff. Wie ein Problem für Menschen, die keine Probleme haben, aber ihr Unbehagen gerne katalogisieren würden. Der Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Die Kassafrau mit zwei Kindern im Homeschooling wird keine Zeit für Languishing haben.

Und doch hat das Konzept einen ernsten Hintergrund und eine Funktion. Keyes’ Forschung deutet darauf hin, dass Menschen, die heute diesen Zustand erleben, in den nächsten zehn Jahren mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Symptome einer Depression entwickeln. Es ist quasi ein Frühwarnsystem.

Frühwarnsystem

Wenn es Languishing immer gibt, warum reden wir dann jetzt darüber? Weil manche Psychologen – bislang noch auf anekdotischer Basis – feststellen, dass dieser Zustand verbreiteter wird. Die Symptome seien vielfältig: Viele Menschen würden beim Gedanken an ein Ende der Pandemie keine aufgeregte Freude mehr empfinden, obwohl es zumindest in mittlerer Griffweite ist. Sie hätten keine Ziele mehr und zunehmende Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.

In US-Medien wurden zahlreiche Psychologen nach den Gründen für den gefühlten Anstieg befragt. Sie stellten verschiedene Thesen auf, die sich natürlich nicht ausschließen müssen. Eine davon: Die Pandemie würde die Menschen in einem ständigen Zustand der Ambivalenz halten. Niemand könne heute Entscheidungen treffen, die sicher in drei Monaten noch halten würden. Dieses In-der-Luft-Hängen sei sehr belastend.

Eine andere Erklärung ist der ermüdende Stressfaktor. Im ersten Lockdown war man ständig alarmiert. Man wich Menschen auf dem Gehsteig aus und forderte an der Supermarktkassa den Abstand ein. Das Gehirn versetzte den Menschen außerhalb seines Zuhauses in eine ständige "Fight or Flight"-Situation: Das ist der Moment, in dem wir evolutionär Gefahr wittern, das Adrenalin hochschießt und wir uns in dem Bruchteil eine Sekunde zwischen Kampf und Flucht entscheiden müssen.

Alles nur noch blah und meh

Diese ständige Achtsamkeit erlahmte, teilweise aus guten Gründen. Man weiß heute, dass es sehr unwahrscheinlich ist, sich bei flüchtigen Begegnungen auf dem Gehsteig anzustecken, und dass die Situation an der Kassa mit FFP2-Masken vermutlich einigermaßen sicher ist.

Und natürlich spielt auch ein Ermüdungseffekt eine Rolle: Die Kämpfen-oder-Flucht-Reaktion ist etwas Besonderes, niemand kann diese Aufmerksamkeit ewig aufrechterhalten. Die Angst vor einer Ansteckung wurde geringer. Man konnte sich plötzlich halbwegs frei in einer Welt bewegen, die wenig Gründe dafür bot, sich in ihr zu bewegen.

Und durch diese Welt treibt man nun, in einem Boot, das nicht schneller wird, aber auch nicht kentert. Man lebt seit einem halben Jahr in einem Soft Lockdown, fühlt sich blah, und im Hintergrund läuft der Blues.

Gegenmaßnahmen

Adam Grant, der den Begriff mit seinem Artikel in der New York Times bekannt gemacht hat, beschreibt darin auch Gegenmaßnahmen. Manche davon haben Menschen bereits intuitiv ergriffen: sich auf die kleinen Siege konzentrieren, sich neue Hobbys oder Herausforderungen suchen, vor allem wenn man in ihnen aufgeht.

Das klingt nicht nach einer spektakulären oder einfachen Lösung, und das ist es auch nicht. Aber Psychologen weisen darauf hin, dass das Benennen von Problemen oft der erste Schritt ist, mit ihnen umzugehen.

Und so könnte es schon hilfreich sein, auf die Frage, wie es einem gehe, in Zukunft erst einmal "I’m languishing" zu antworten. Jetzt brauchen wir nur noch ein gutes deutsches Wort dafür. "Versumpern" vielleicht? (Jonas Vogt, 30.4.2021)