Im Gastkommentar analysiert der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik, warum die Sozialdemokratie stetig an Boden verliert – und worauf mehr geachtet werden müsste.

Abgesänge auf die Sozialdemokratie sind schon viele – vielleicht zu viele – geschrieben worden. Soll man diesem wiederkehrenden Lamento, bei dem die Präzision der empirischen Diagnose bisweilen negativ mit der missionarischen Überzeugung korreliert, den richtigen Ausweg zu kennen, also noch einen traurigen Vers hinzufügen? Wohl eher nicht.

Dornige Zeiten für die Sozialdemokratie: In den westeuropäischen Staaten kommt der Druck nicht von rechts, sondern von grünen, linksradikalen und Mitte-rechts-Parteien.
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Ein nüchterner empirischer Befund kann dennoch nicht schaden, denn tatsächlich befinden sich Europas Sozialdemokratien seit längerem im Sinkflug. In einer 100 Jahre umfassenden Analyse zum Thema kommen die Politologen Giacomo Benedetto (University of London), Simon Hix (LSE) und Nicola Mastrorocco (Trinity College Dublin) zum Ergebnis, dass sozialdemokratische Wahlerfolge stark mit der Größe des industriellen Sektors und mit der Höhe der Sozialausgaben korrelieren.

Zwar machen Arbeiterinnen und Arbeiter in Europa immer noch überdurchschnittlich oft bei der Sozialdemokratie ihr Kreuz – es handelt sich dabei aber um eine stark schrumpfende Gruppe. In Österreich etwa ist der Anteil der Beschäftigten in Industrie und Gewerbe seit 1975 von 41 auf 25 Prozent gesunken.

Ein guter Teil des roten Abwärtstrends manifestiert sich nicht durch direkte Wählerabwanderung, sondern durch simplen Generationswechsel. In den fünf Jahren, die in Österreich (theoretisch) zwischen zwei Nationalratswahlen liegen, versterben mehrere Hunderttausend überwiegend ältere Wahlberechtigte, gleichzeitig rücken mehrere Hunderttausend überwiegend jüngere Wahlberechtigte nach – Einbürgerungen fallen nummerisch kaum ins Gewicht. Bedenkt man das Altersgefälle bei der SPÖ-Präferenz (14 Prozent bei Personen unter 30 gegenüber 31 Prozent bei Personen ab 60 laut Sora/ISA-Wahltagsbefragung 2019), kann man sich die Folgen leicht ausmalen.

Links der Mitte

Zu diesen sozialstrukturellen Trends kommt verschärfte Konkurrenz durch neue Parteien. Dabei spielen nationalistisch-populistische Parteien europaweit eher eine Nebenrolle (Österreich war hier lange eine Ausnahme). Die Politikwissenschafter Markus Wagner und Tarik Abou-Chadi haben erst kürzlich festgehalten, dass Westeuropas sozialdemokratische Parteien in den letzten 20 Jahren vor allem an grüne, linksradikale und Mitte-rechts-Parteien verloren haben. Hatte die Sozialdemokratie lange ein Quasimonopol auf die parlamentarische Vertretung von Wählerinnen und Wählern links der Mitte, sind grüne und andere linke Parteien heute deutlich erstarkt. Die Verluste sozialdemokratischer Parteien müssen also im Kontext einer zunehmenden Fragmentierung der Parteienlandschaft gesehen werden. Eine ähnliche Diagnose ließe sich übrigens für christdemokratische Parteien stellen, die im europäischen Langzeitvergleich ebenso massiv an Popularität eingebüßt haben.

Diese Perspektive legt auch nahe, dass ein Blick auf Wahlergebnisse und dahinterliegende Trends als Analyse jedenfalls zu kurz greift. Denn Wählerstimmen sind nur insofern von Interesse, als sie Machtoptionen eröffnen. Und die Machtoptionen einer Partei hängen in Ländern mit Verhältniswahlrecht nur sehr indirekt mit ihrem Stimmenanteil zusammen. Beispielsweise liegt die deutsche SPD wenige Monate vor der Bundestagswahl 2021 bei nur rund 16 Prozent. Eine eventuelle grün-rot-rote Koalition kratzt hingegen an der 50-Prozent-Marke.

Aus ähnlichen Gründen lohnt sich ein Blick in den Norden Europas. Obwohl die Sozialdemokratie in ihrer ehemaligen Bastion jüngst historisch schlechte Wahlresultate kassiert hat, regieren in Dänemark, Schweden und Finnland sozialdemokratische Regierungschefs unter Beteiligung beziehungsweise mit Unterstützung von Grünen, Linken, Liberalen und Zentrumsparteien. Umgekehrt kann dasselbe gelten: Das beste sozialdemokratische Wahlergebnis der letzten zehn Jahre in Westeuropa lieferte 2017 die britische Labour Party mit knapp 40 Prozent – die Partei selbst istseit 2010 in Opposition. Wie hoch die rote Säule am Wahltag steigt, ist also weniger relevant. Entscheidender sind die Koalitionsoptionen, die eine bestimmte parlamentarische Konstellation zulässt.

Enormer Volatilitätszuwachs

In dieser Hinsicht befindet sich das österreichische politische System in einer paradoxen Lage. Zum einen ist das Wahlverhalten gehörig in Bewegung geraten. Volatilität ist die neue Normalität. Die Politologen Fritz Plasser und Franz Sommer haben dokumentiert, dass sich im Jahr 1980 noch wenige Prozent der Wählerschaft als Wechselwähler deklarierten – 2017 war es dann ein gutes Drittel.

Paradox ist nun, dass dieser enorme Volatilitätszuwachs kaum neue Koalitionsoptionen eröffnet hat. Trotz massiver Wählerbewegungen gibt es im Nationalrat seit 1983 eine stabile Mehrheit rechts der Mitte. Das führt zur unbefriedigenden Lage, dass in Österreich nur ideologisch extrem inkohärente Koalitionen möglich sind (SPÖ-ÖVP, neuerdings auch ÖVP-Grüne) oder solche mit der FPÖ, die in Regierungen eine Ausfallquote von 100 Prozent aufweist (1986 Jörg-Haider-"Putsch", 2002 Knittelfeld, 2005 BZÖ-Abspaltung, 2019 Ibiza).

Solange das Kanzleramt in roter Hand war, hat sich die SPÖ mit dieser Situation abgefunden. Vielleicht motiviert sie das Oppositionsdasein dazu, Strategien zum Erlangen neuer Mehrheitsoptionen stärker als bisher auszuloten und damit einen gesunden demokratischen Wechsel von Mitte-rechts- und Mitte-links-Regierungen zu ermöglichen. Man muss nicht einmal Sozialdemokrat sein, um das gutheißen zu können. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 1.5.2021)