Was Wien touristisch unverwechselbar macht, ist nicht Shopping-, sondern Lebensqualität.

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Eigentlich wären jetzt die Japaner dran. Blöderweise sagt "eigentlich", dass genau das Gegenteil passiert. Auch in diesem Fall. Weil erstens viele Menschen "dank" Corona derzeit gar nicht verreisen. Und zweitens weil Wiens Hotellerie lockdownauflagenbedingt ohnehin noch geschlossen ist. Deshalb: eigentlich.

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Eigentlich wären jetzt die Japaner an der Reihe, Wien zu erkunden. Denn Anfang Mai ist Japans Haupturlaubszeit. In der "Golden Week" liegen einige Feiertage günstig. Die kombinieren viele Japanerinnen und Japaner mit ihrem Jahresurlaubsanspruch von einigen wenigen Tagen: "Vier Länder in einer Woche" lautet das Europa-Basisprogramm. An- und Abreise inklusive.

Geht das? Ja, sagt Karin Höfler – und fügt schmunzelnd hinzu: "Aber ich weiß nicht, wie." Höfler ist Japanisch-Dolmetsch und Fremdenführerin in Wien. Normalerweise ist sie Anfang Mai ausgebucht.

Klischees als Shortcuts ins Herz

Die Reichsbrücke – Touristen-Pflicht, löst aber wenig Begeisterung aus.
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Natürlich könnte man an dieser Stelle über Zahlen, Ausfälle, leere Hotelbetten, Umsatzrückgänge und Krise reden. Aber das passiert anderswo ohnehin. Doch auch wenn heimische Gäste den De-facto-Totalausfall internationaler Besucher nicht wettmachen können, bietet die Touri-Lücke den Locals die Chance, Wien selbst zu erleben.

Haben Sie Wien je mit touristischen Augen gesehen? Wissen Sie, was Menschen vom anderen Ende der Welt hier erleben? Was sie sehen, was nicht, was und wo sie essen? Was sie begeistert, was auffällt, was enttäuscht? Und vor allem: Was sie erwarten?

Wäre der Mai, die japanische "Golden Week" nicht Grund genug, zu versuchen, Wien "fernöstlich" zu erleben? Stoßen Sie sich nicht an Klischees: Reisen spielt und kokettiert damit.

"Klischees werden mit der Entfernung dichter", sagt Wien-Tourismus-Chef Norbert Kettner – und will sie auch nicht verdammen: "Sie sind ‚Shortcuts ins Herz‘." Die Frage sei, wie man mit ihnen umgeht: "Jeder von uns hat Bilder im Kopf. Der eigene Standort bestimmt die Wahrnehmung: Das kann helfen und motivieren – oder abstumpfen."

Pflicht: die "Grande Tour" durch Schönbrunn – 40 Räume im Eiltempo.
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Für Wien "fernöstlich" müssen Sie früh raus. Etwa wenn Sie ein taiwanisches Gruppenprogramm wählen: Um 6.40 Uhr (um 6.30 sperrt der Schlosspark von Schönbrunn auf) stehen Sie vor der Gloriette. Dann hasten Sie zwischen überraschten Morgenjoggern bergab: Hinter dem Schloss wartet Ihr Bus. Nächster Programmpunkt: 7.15 Uhr, Ringstraße.

Versuch’s nicht mit Gemütlichkeit

Gemütlichkeit? Zeitunglesen im Café? Derlei können Sie sich auch bei japanischen Gruppenprogrammen abschminken. "Japaner sind immer in Eile", plaudert Karin Höfler aus der Schule: In einen halben Wien-Tag müssen Schönbrunn ("Die ‚Grande Tour‘ – 40 Räume"), Belvedere, Kunsthistorisches Museum und Bimfahren passen. Dann Schnitzel oder Tafelspitz – und weiter. Nach München oder Venedig. Mit Zwischenstopp in Salzburg.

Dass sich da vieles nicht ausgeht, ist systemimmanent. Die meisten Fernostgruppen, sagt Höfler, sehen den Stephansdom nie. Er liegt busstrategisch "blöd". Bei wenig Zeit gilt: Kirchen gibt es überall – Sisi und Beethoven aber eben nur in Wien.

Das sehen nicht nur Gäste aus Japan so, "die Sisi an ihre eigenen Prinzessinnen im goldenen Käfig erinnert" (Höfler). Obwohl immer noch die (falschen) Bilder von Ernst Marischkas Sissi-(sic!)-Trilogie aus den 1950er-Jahren die Wien-Erwartungen definieren: Dass Sisi eher in Laxenburg denn Schönbrunn war, lasse sich chinesischen Wien-Besucher gerade noch vermitteln, weiß Long Lin-Maurer.

Gefragt sind die Lokale im "Little Chinatown" auf dem Naschmarkt.
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Aber nicht, dass die Romanze mit "Franzl" den Realitycheck nicht besteht, seufzt und lächelt die in Wien lebende chinesische Fremdenführerin: "Zu Sisi darf nichts Negatives kommen. Viele Chinesen assoziieren mit ‚Wien‘ nichts – ‚Sisi‘ löst jedoch etwas aus."

Musik und Donau

"Wien sehen" bedeute auch "Musik sehen": Musikverein, Oper, das Strauß-Denkmal. Selbst wenn für Wien nur sechs Stunden Zeit zur Verfügung stehen, sei "an der schöne blauen Donau" ein Wunschbild, "der Blick von der Reichsbrücke dann eine Enttäuschung."

Auch Japan-Expertin Höfler kennt derlei Donau-Ernüchterung. Die sei mit der Enttäuschung vergleichbar, wenn jemand einem als Österreicher Identifizierten begeistert die Melodie von Sound of Music vorsummt – und die Besummten diese nicht erkennen.

Höfler kennt das Sound of Music-Phänomen auch auf rein Wienerisch: Sie betreibt das
3.-Mann-Museum. Heimische Besucher sind selten, Amerikaner und Briten die Regel. Und Deutsche: Dort gehört Der dritte Mann oft zum Englischunterricht. Jüngeren Wienern sagt bestenfalls noch der Filmtitel etwas, gesehen hat den Film kaum wer.

Höflers Kunden aus Fernost hingegen kennen das Harry Lime Theme: Eine japanische Biermarke verwendet die Melodie in ihrer Werbung. Und eine Tokioter U-Bahn-Linie signalisiert damit "Endstation". Dementsprechend nachhaltig sei die Wirkung, wenn Höfler das Bekannte dann mit Wien verknüpft: Manche Asiatische Airlines haben zwar Sound of Music auf Wienflügen im Onboard-Unterhaltungsvideopackage – den Dritten Mann aber nie.

Idyllische Erwartungen

SoM passt aber eh besser: Es triggert idyllische Erwartungen. Und nach Wien kommt eh Salzburg. Oder Hallstatt. Und auch Hallstatt, das nur nebenbei, verdankt seine Popularität der touristischen Sehnsucht nach erfüllten Erwartungen: Eine Zeichnung von Hallstatt, der Blick vom See aufs Dorf, war jahrzehntelang in chinesischen Schulbüchern das Genrebild für ein "europäisches Bergdorf".

Das brannte sich tief ins kollektive Gedächtnis ein: Wenn reale Bilder eine Erinnerung bestätigen, gilt ein Traum als erfüllt. Instagram und Social Media bewirken – verstärkt –, was Ansichtskarten früher taten: Die Daheimgebliebenen können anhand bekannter Sujets die Authentizität einer Reise überprüfen. Stimmen die Bilder, ist das Erlebnis glaubhaft.

Doch Reisende suchen in der Fremde auch Heimat. So bezaubert es Japaner, dass Floridsdorf einen Tora-San-Park hat. Tora San ist – leger formuliert – Japans Hans Moser. Von den 1960ern bis in die 1990er bereiste er im TV Japan. Wiens Ex-Bürgermeister Helmut Zilk schaffte 1989 das bis dahin (und danach) Undenkbare: Tora San verließ Japan – und kam nach Wien. Der Park erinnert daran.

Für Japaner eine Enttäuschung: der Setagaya-Park in Wien-Döbling.
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Aber sehen den die Gäste? Nein. Gruppen mit mehr Zeit schaffen es manchmal in den japanischen Garten Schönbrunns. Der liegt zwischen Tiergarten und Palmenhaus – und viele Wiener bemerken ihn gar nicht. Dass Wien einen Setagaya-Park hat, wissen dagegen (die Kirschblüte dort wurde heuer gehypt) etliche Wienerinnen und Wiener. Japanische Gäste waren mit Karin Höfler erst ein einziges Mal dort – und waren enttäuscht: Der Park ist klein.

Schnitzel mit Sojasauce

Eine andere komplexe touristische Erwartungshaltungen ist das Essen: Natürlich wollen Reisende aus Fernost die europäische Küche probieren. Doch nach ein paar Tagen macht sie Menschen aus vielen (nicht allen!) Ländern zu schaffen. So wie es Europäer und Amerikaner in Laos meist irgendwann zu McDonald’s verschlägt, ist es auch umgekehrt.

Allerdings trauen Japaner auch angeblich "japanischen" Lokalen in Europa nicht, sagt Karin Höfler. Auch japanische Gruppen essen da oft in Chinarestaurants. So gilt etwa das Lucky Buddha in Wien-Fünfhaus als "typisch". Und Lin-Maurer verweist auf das gleiche Lokal als beliebten China-Touri-Versorger. So wie das Hong Kong Grillhaus (1060) oder die Lokale in Wiens kleiner "Chinatown" beim Naschmarkt.

Schnitzel muss sein, das ist klar. Gewürzt wird aber mit Sojasauce.
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Wobei man auch – Zeit! – auf die Schnelle oft einfach im Hotelzimmer snackt. Dass es für Chinesen essenziell ist, sich mit Instant Noodles jederzeit eine warme Mahlzeit bereiten zu können, wissen Wiens Hoteliers längst. Wo chinesische Gruppen absteigen, ist der Wasserkocher im Zimmer deshalb Standard.

Erlebnis Sacher

Bei Japanern gehören Briefchen mit Sojasauce ins Marschgepäck. Damit wird fast alles – ja, auch Schnitzel – "verfeinert". Das Entsetzen der Wiener ist mit dem eines Römers vergleichbar, wenn der Tourist zu Spaghetti ein Messer verlangt.

Wobei: Autochthones Publikum sieht derlei ohnehin fast nie – es weicht Touristen beim Essen aus. Das liege, betont Gastroexperte Florian Holzer, aber nicht immer an kulinarischen Kriterien: "Beim Figlmüller oder im Café Central stimmt die Qualität. Aber kein Wiener ist so wahnsinnig, für eine Melange Schlange zu stehen."

Warum Touristen es tun? Weil der Ort im Reiseführer steht: Dass sich vor dem Café Sacher vornehmlich Asiaten anstellen, ist dem Narrativ, nicht dem Erlebnis geschuldet.

Wesentlich günstiger als in Japan sind in Wien internationale Luxuslabels.
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Wobei das Erlebnis Sacher, die (Mitbringsel-)Torte, auch Erwartungen daheim befriedigen muss: Souvenirkauf und Shoppingerlebnis überlappen einander. Während es Inividualtouristen aus Japan – auch wegen der günstigeren Preise im Vergleich zu daheim – zu den global überall gleichen Luxusshops der City zieht, findet man chinesische Gruppen in zwei (chinesisch geführten) Duty-Free-Souvenirshops mit Fokus auf Swarovsky-Bling auf der Achse von Schönbrunn in die City: A&M auf der äußeren Schönbrunner Straße, Romy Deluxe beim Bacherpark in Margareten.

Lebensqualität

Doch was Wien touristisch unverwechselbar macht, ist nicht Shopping-, sondern Lebensqualität. Was Touristen da auffällt, wird von Einheimischen längst nicht mehr wahrgenommen. "Dass Trinkwasser durchs Klo rinnt", sagt Luna Lin-Maurer, "haut die Leute um: Sie glauben erst, dass Leitungswasser trinkbar ist, wenn ich bei einem öffentlichen Trinkbrunnen trinke."

Karin Höfler verweist auf ein Wienern völlig fremdes Detail: "Japaner irritiert es, dass Statuen nicht gesichert sind, sondern einfach auf dem Sockel stehen: Bei uns sind Erdbeben kein Thema."

Manche asiatischen Gäste reservieren sich ein Grab auf dem Zentralfriedhof.
Foto: Imago / Arnulf Hettrich

Freilich ist der Grund, weshalb manche Japaner überlegen, später einmal vielleicht für immer nach Wien zu kommen, zwar die Ruhe des Bodens – doch auf andere Art: Eine japanische Firma bietet auf dem Zentralfriedhof Grabstätten in der Nähe der Gräber großer Komponisten an. 310 Plätze sind noch frei.

Und auch wenn es nicht wirklich "Tourismus" ist, neben Beethoven, Schubert oder Strauss, in Blickweite des Mozart-Monuments (dass Mozart anderswo liegt, wird beinahe elegant umschifft) begraben zu sein erzählt auch das, wofür Wien anderswo steht.

Was "Fremde" in der Stadt sehen. Wofür sie um die halbe Welt reisen. Für ein paar Stunden auf einem hektischen Par-force-Trip durch Europa – oder eben irgendwann vielleicht für immer. (Tom Rottenberg, 30.4.2021)