Im Landesgericht für Strafsachen Wien zeigt sich neuerlich, dass man bei Verkehrsdisputen sein Fahrzeug besser nicht verlässt.

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Wien – "Mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache" hielt der oberösterreichische Schriftsteller Adalbert Stifter in der Vorrede von "Bunte Steine" für nicht unbedingt erstrebenswert. Just in der nach ihm benannten Straße in Wien-Brigittenau soll am 30. Juli 2020 beim Angeklagten Roland P. der Zorn nicht nur einhergerollt sein, sondern auch dafür gesorgt haben, dass ein 58-Jähriger schwer verletzt wurde.

Es geht wieder einmal um eine Auseinandersetzung im Straßenverkehr. P. schildert Richter Peter Komenda den Ablauf so: "Wir sind auf der Gürtellinie auf der linken Spur genau 50 gefahren. Dann hat hinten wer gehupt, ich habe mich nicht betroffen gefühlt. Plötzlich hat uns der Mercedes rechts überholt, der Fahrer hat mir den Vogel gezeigt und mich dann geschnitten, als er wieder auf die linke Spur wechselte."

"Wollte ihn zur Rede stellen"

Bis zum Tatort soll der Kontrahent den 31-jährigen Angeklagten durch unvermitteltes Bremsen dreimal zu Vollbremsungen genötigt haben. "Bei der zweiten Ampel war dann rot, ich bin ausgestiegen und wollte ihn zur Rede stellen", erklärt P. dem Richter. "Er hat das Fahrerfenster schon unten gehabt und das Handy am Ohr und hat gesagt, er telefoniere schon mit der Polizei." Dem Angeklagten sei das recht gewesen, er sei daher wieder in seinen Kleintransporter gestiegen und habe gewartet.

Allerdings sei plötzlich der Gegner ausgestiegen, habe die Kennzeichentafel des Angeklagten fotografiert und wie eine Rohrammer geschimpft. So soll Ernst S. ihn zum Verlassen des Fahrzeugs aufgefordert und gleichzeitig eine Verwandtschaft P.s in direkter, absteigender Linie mit einer Prostituierten postuliert haben.

Der Angeklagte kam der Aufforderung nach. "Plötzlich hat der andere einen raschen Schritt auf mich zugemacht, ich dachte, der will mich schlagen. Ich habe ihn mit beiden Händen gegen die Brust weggestoßen. Er ist dann ein paar Schritte zurückgetaumelt, dann hat er sich neben sein Auto auf die Straße gesetzt", sagt der Angeklagte.

"Du wirst zahlen, du hast mich geschlagen!"

"Du wirst zahlen, du hast mich geschlagen!", habe S. noch gedroht, erinnert sich P. Nach kurzer Zeit sei S. weggefahren, P. und sein Beifahrer seien zunächst noch gefolgt, da sie dachten, er fahre zur Polizei. Als sie erkannten, dass das nicht das Ziel war, nahmen sie ihre ursprüngliche Route wieder auf.

Zeuge S., der einen Kopf größer und 20 Kilo schwerer ist als der sechsfach wegen Eigentumsdelikten vorbestrafte P., humpelt in den Saal. Er laboriere noch immer an den Verletzungsfolgen von damals, erzählt er. Seine Version der Geschichte ist eine völlig andere. Er habe einem einparkenden Auto auf der rechten Spur ausweichen müssen, nach dem Umspuren habe ihm ein Kleintransporter von hinten die Lichthupe gegeben und sei mehrmals sehr knapp aufgefahren.

"Ich habe mir eigentlich nichts gedacht. Als ich mit offenem Fenster bei der Ampel stand, ist der Angeklagte plötzlich gekommen und hat mir mehrmals mit der flachen Hand auf den Kopf geschlagen", behauptet S., bei dem ein Sachverständiger ein Knochenmarködem im rechten Knie festgestellt hat.

Kennzeichen fotografiert

Nachdem P. verschwunden sei, habe er beschlossen, das gegnerische Kennzeichen zu fotografieren, berichtet der Zeuge. Wortlos habe er zwei Bilder mit dem Handy gemacht, als der Angeklagte näher gekommen sei. "Ich dachte, er will mich wieder beschimpfen. Aber plötzlich hat er mir von der Seite einen Stoß gegeben", sagt der Zeuge.

S. behauptet, der Angeklagte habe ihn am rechten Oberarm und der Flanke weggestoßen, dadurch will S. einen derartigen Drehimpuls bekommen haben, sodass er fast 90 Grad verdreht auf der Fahrbahn aufschlug – und zwar mit den Knien zuerst, da er keine Zeit mehr gehabt habe, die Hände auszustrecken.

Er habe sofort einen Stich gespürt, sich zurück zu seinem Auto geschleppt und die Polizei verständigt. Da die nicht kam, sei er zunächst zu seinem Arbeitsplatz gefahren und habe mit seiner Freundin telefoniert, die ihm zur Anzeige riet. Da die Schmerzen immer ärger wurden, sei er 30 bis 45 Minuten nach dem Vorfall zur Polizei gefahren, sagt der Zeuge.

Anzeige erst über vier Stunden später

Was nicht stimmt, wie Richter Komenda dem Akt entnehmen kann. Denn die Auseinandersetzung ereignete sich gegen 7.45 Uhr morgens, in der Polizeiinspektion erschien er erst um 12.20 Uhr. Die zeitliche Diskrepanz kann S. nicht wirklich erklären. Der Verteidiger hält ihm noch weitere Ungereimtheiten vor: So habe die Polizei ein geschwollenes linkes Knie vermerkt und dieses sogar extra mit einem Pfeil auf einem Foto markiert. Umgekehrt sind auf dem Bild keine Abschürfungen, wie sie bei einem ungebremsten Sturz auf den Asphalt zu erwarten wären, zu erkennen.

Auch der Richter fragt noch einmal nach: Beim Amtsarzt habe S. nämlich von Hämatomen am Oberarm und Schmerzen in Kopf und Schulterbereich gesprochen. "Wo sollen die herkommen?", wundert Komenda sich. "Wahrscheinlich, wie er mich auf den Kopf geschlagen hat." – "Und die Hämatome?" Der Zeuge liefert keine Erklärung.

Er will aber 10.000 Euro an Behandlungskosten. Da nach seiner Darstellung nämlich Corona-bedingt Kassenärzte nicht motiviert gewesen seien, die Ursache seiner Kniebeschwerden zu ergründen, habe er sich einen Wahlarzt nehmen müssen. Offenbar einen Spezialisten, der Mediziner ist laut seiner Homepage auch Teamarzt eines großen, wenngleich finanziell etwas klammen, Wiener Fußballvereins. 5.800 Euro habe er bereits bezahlt, sagt S., es könnten aber bis zu 10.000 werden, begründet er seinen Privatbeteiligtenanspruch.

Freispruch wegen Restzweifel

Den er auf dem Zivilrechtsweg einklagen wird müssen. Denn nachdem der Beifahrer die Version des Angeklagten großteils bestätigt hat, spricht Richter Komenda P. nicht rechtskräftig frei. "Der ganze Vorgang ist höchst dubios", begründet der Richter seine Entscheidung. Denn ihm ist unklar, warum der Zeuge erst vier Stunden später bei der Polizei erschienen ist, obwohl er sie angeblich bereits vor Ort alarmiert hatte. Auch sei unklar, woher die Hämatome am Oberarm von S. stammen sollen. Für eine strafrechtliche Verurteilung seien ihm die Restzweifel daher zu groß. (Michael Möseneder, 30.4.2021)