Sauerstoffflaschen werden mitunter daheim gehortet, sodass sie in Indiens Spitälern fehlen.

Foto: EPA / Idrees Mohammed

Ohne Corona, sagt Julia Pape, wäre sie nicht mehr in Indien. Ohne die Pandemie wären ihr indischer Mann und sie längst wieder in Europa. So aber harrt die 32-jährige Deutsche in Chennai aus und wartet auf den Flug raus aus dem Subkontinent. Bis es so weit ist, erlebt sie hautnah mit, wie Indien die Luft wegbleibt – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das macht sie ziemlich wütend.

Am Freitag meldete die indische Regierung mit 386.452 Neuinfektionen erneut einen weltweiten Höchstwert, mit 3.645 Toten am Donnerstag so viele wie noch nie zuvor an einem Tag. Für Pape, die von 2009 bis 2017 in Wien lebte und dann mit ihrem Mann nach Indien zog, kommt das nicht überraschend. Auf den Straßen Chennais sieht sie kaum Masken, Abstände werden nicht ansatzweise eingehalten.

"Eine Mitarbeiterin hat uns erst vor drei Tagen zu einer Babyparty eingeladen. Da sitzen dann in einer Zehn-Quadratmeter-Wohnung zwölf Menschen und essen mit der Hand vom Boden", sagt die Deutsche, die mit ihrem Mann ein Unternehmen für Hundefutter führt. "Ich bin die Chefin, die Ausländerin und damit der Stargast. Ihr zu sagen, dass ich wegen Corona nicht komme, würde sie nicht verstehen."

Prügel von der Polizei

Überhaupt könne man in Indien, sagt sie zum STANDARD, das Virus nicht mit Lockdowns eindämmen. "Anfangs hat man es mit harten Lockdowns probiert. Leute, die trotzdem auf der Straße waren, wurden von der Polizei verprügelt", sagt Pape. Es habe nichts geholfen. "Hier gibt es kein Arbeitslosengeld. Die Leute müssen raus, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen."

Doch wieso ist Indien, mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie, zum globalen Corona-Epizentrum geworden (siehe Grafik)? Pape sieht mehrere Gründe: Derzeit wird in fünf Bundesstaaten mit insgesamt 175 Millionen Stimmberechtigten gewählt. "Premier Modi hat seine Politiker in jedes Dorf für Wahlkampfveranstaltungen geschickt. Die haben das Virus quer durchs Land geschleppt."

Das ist der eine Grund, der Pape wütend macht. Der andere? "Die katastrophale Situation in Neu-Delhi ist letztendlich ein Politikum: Die Stadt wird nicht von Modis Partei BJP, sondern von der AAP geführt. Modi freut sich, wenn es Neu-Delhi schlechtgeht." Sie habe gehört, dass Sauerstofftanker an der Stadtgrenze gestoppt wurden – vom Militär.

Leere Straßen in Neu-Delhi

Dort, in Neu-Delhi, von wo Fotos aus den überfüllten Spitälern um die Welt gingen, lebt Jamal. Der 23-jährige Inder, der seinen richtigen Namen nicht in den Medien lesen will, hat sich mit seiner Familie daheim eingesperrt. "Wir waren seit einer Woche nicht mehr draußen. Was wir brauchen, bestellen wir online oder telefonisch", schreibt er dem STANDARD via Chat. Was er von dort beobachten kann? "Die Straßen sind leer, die Menschen haben Angst und sind vorsichtig – spät, aber doch." Und er habe noch nie so oft die Sirene der Rettung gehört wie derzeit: "15- bis 20-mal täglich."

Ursachen für diese dramatische Situation kann Jamal, der an der Uni von Neu-Delhi studiert und letztes Jahr vier Monate in Wien war, einige nennen: Ignoranz, mangelnde Bildung, um die Gefahr zu verstehen, Wahlkampfveranstaltungen, religiöse Massenevents, kombiniert mit einem desaströsen Gesundheitssystem und einer besonders ansteckenden Virusmutante. Man habe einfach die Sicherheitsvorkehrungen ignoriert: "Im Endeffekt ist jeder hier daran schuld, was in Indien nun passiert."

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, sagt Eva Wallensteiner am Telefon. Die 52-Jährige ist als Projektreferentin der Dreikönigsaktion – Hilfsorganisation der Katholischen Jungschar – täglich in Kontakt mit ihren Ansprechpartnerinnen und -partnern in Indien. Dadurch, dass die Menschen nur selten staatlichen Strukturen vertrauen, würden sie sich auch jetzt nur auf sich selbst verlassen: "Viele Leute horten Sauerstoffflaschen daheim, damit sie diese im Notfall einsetzen können", sagt Wallensteiner. "Doch die fehlen natürlich in der medizinischen Versorgung."

"Mit Geld geht hier alles"

Internationale Hilfe ist bereits unterwegs, auch aus Österreich. Julia Pape hofft, dass sich die Situation dadurch rasch bessert. Im Falle einer Covid-Infektion würde sie trotzdem nicht in ein reguläres Spital gehen, "da würde ich noch an anderen Erregern sterben, die ich mir dort einfange". Sie als Europäerin, das ist ihr bewusst, hätte im Fall der Fälle die finanziellen Mittel für eine adäquate Behandlung: "Mit Geld geht hier alles."

Das ändert nichts daran, dass ihr Mann und sie so bald wie möglich nach Deutschland wollen. Lange musste ihr Mann auf das Arbeitsvisum warten, weil die deutsche Botschaft wegen Corona zusperrte. "Mittlerweile ist es da, ein Job in München wartet auf ihn, und die Flugtickets für uns und unsere Hunde sind auch gebucht. Aber jetzt haben sie die Flüge wegen Corona gestrichen." Nun heißt es wieder warten – sehnsüchtig: "Ich will gerne nach Hause. Ich habe lange kein freundliches Gesicht mehr gesehen. Ich möchte wieder ein Hallo hören." (Kim Son Hoang, Bianca Blei, 30.4.2021)