Das für Altbauwohnungen geltende Richtwertsystem, das die Mieten auf ein vernünftiges Maß deckeln sollte, stößt immer mehr an seine Grenzen.

Illustration: Armin Karmin

Es flog etwas in die Luft: In Berlin wurde kürzlich der Mietendeckel vom Verfassungsgericht aufgehoben – ein Paukenschlag, der viele Mieten über Nacht empfindlich nach oben schraubte. Es gab spontane Demonstrationen, die Bilder gingen um die Welt.

In Wien gab es bis jetzt keinen solchen Paukenschlag, nichts flog davon. Hier geht es bekanntlich gemächlicher zu. Und dennoch ist die Lage am Wohnungsmarkt fast genau so chaotisch wie in Berlin. Denn das für Altbauwohnungen geltende Richtwertsystem, das die Mieten auf ein vernünftiges Maß deckeln sollte, stößt immer mehr an seine Grenzen. Für viele Beobachter wurden diese Grenzen mittlerweile sogar überschritten.

Zum Beispiel für Wolfgang Kirnbauer, langjähriger Mitarbeiter beim Mieterschutzverband. Er berichtet dem STANDARD, was sich derzeit zuhauf vor allem in den sehr beliebten Gegenden innerhalb des Gürtels abspielt: Mieter wollen ihre stark gestiegene Altbaumiete bei der Schlichtungsstelle überprüfen lassen.

Die Schlichtungsstelle sieht sich zunächst den "Lagezuschlag" an – eine der wesentlichen Komponenten bei der Berechnung der Altbaumiete. Dabei orientiert sie sich an der aktuellen Lagezuschlagskarte der Stadt Wien. Oftmals kommt dabei heraus, dass die Mieten vielfach zu hoch berechnet wurden.

Die Vermieter allerdings akzeptieren das Ergebnis der Schlichtungsstelle nicht, sondern ziehen dagegen vor Gericht.

Gutachter

Hier kommen nun die Gutachter ins Spiel. Sie werden vom Gericht beauftragt, die Lagequalität der betreffenden Adresse zu beurteilen. "Und da lesen sich manche Sachverständigengutachten wie Exposés von Immobilienmaklern", kritisiert Kirnbauer.

Vor allem in den inneren Bezirken werde von Sachverständigen "für nahezu jede Lage eine überdurchschnittliche Lage konstatiert, bei der die Schlichtungsstelle noch eine durchschnittliche Lage angenommen hat". Überdurchschnittliche Lagen rechtfertigen einen Lagezuschlag, durchschnittliche laut Gesetz nicht.

Der Unterschied ist gravierend und beträgt oft vier bis fünf Euro mehr Miete pro Quadratmeter. Dazu kommt, dass Mieter, die ein solches Verfahren verlieren, meist auch die Rechnung des Gutachters begleichen müssen, eine vierstellige Summe.

Doch warum setzt die Schlichtungsstelle so geringe Mieten fest, wenn diese dann nicht halten? Das hat vor allem mit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2017 zu tun. Zur Beantwortung der Frage, ob eine Lage überdurchschnittlich sei, dürften nicht nur die Grundkosten herangezogen werden, entschied der OGH damals. Es sei vielmehr auf die "allgemeine Verkehrsauffassung" und die "Erfahrung des täglichen Lebens" abzustellen.

Das Urteil hatte zur Folge, dass die Stadt bzw. die Magistratsabteilung 25 bei der Berechnung ihrer Lagezuschlagskarte auf die Bremse stieg. Die Gebiete wurden neu definiert und auch neu berechnet. Mit dem Effekt, dass in vielen Top-Lagen zwar in Gürtelnähe, aber eben in heutzutage so beliebten Bezirken wie dem siebenten (Neubau) und achten (Josefstadt), aber auch in weiten Teilen des fünften Bezirks (Margareten) plötzlich zumindest laut Karte gar kein Lagezuschlag mehr gerechtfertigt ist.

Neubaugasse als harte Grenze

Doch die Immobilienwirtschaft wollte das nicht hinnehmen und zieht nun immer öfter gegen Entscheidungen der Schlichtungsstelle vor Gericht, aufmunitioniert mit Gutachten, in denen auf gute Öffi-Anbindungen, Parks und Schulen in der Nähe hingewiesen wird.

Und fallweise wird in diesen Gutachten auch ganz penibel Haus für Haus nachgewiesen, dass eine bestimmte Gegend kein Gründerzeitviertel gemäß Richtwertgesetz mehr sei. In Gründerzeitvierteln gibt es nämlich laut Gesetz nach wie vor ein Lagezuschlagsverbot.

Auf die offensichtlichen Schwächen der neuen Lagezuschlagskarte wird freilich auch immer wieder hingewiesen. Denn laut Karte ist etwa auf der östlichen Seite der Neubaugasse im Bobo-Bezirk Neubau ein Lagezuschlag von 4,62 Euro möglich, auf der westlichen Straßenseite aber gar keiner. Im achten Bezirk bildet die Strozzigasse dieselbe Grenze, im vierten (Wieden) ist es die Schleifmühlgasse. Diese "harten" Grenzen, wo es gleich um mehrere Euro Unterschied geht, sind natürlich kaum erklärbar.

Und so werden die Fälle, die vor Gericht landen, statt von der Schlichtungsstelle erledigt zu werden, immer mehr. Nach Angaben der MA 50 waren es 2018 noch 32 Prozent aller Mietzinsüberprüfungen, 2020 schon 41 Prozent.

Kaum Rechtssicherheit

"Die Schlichtungsstelleneinschätzung gibt kaum noch Rechtssicherheit", resümiert Mieterschützer Kirnbauer. Elke Hanel-Torsch, Vorsitzende der Wiener Mietervereinigung, sieht das genauso. "Wir können nicht mehr einschätzen, was vor Gericht herauskommt."

Was die Mieterschützer besonders ärgert: Dass "so gut wie alle" Sachverständigen der Immobilienbranche zuzurechnen seien. "Da kann man sich leicht ausrechnen, dass die notwendige Neutralität nicht annähernd gegeben ist", sagt Kirnbauer. Ein befreundeter Anwalt habe ihm erst kürzlich geschildert, dass ein Gutachter in eine Wohnung kam "und sich gleich bei der Befundaufnahme kaum noch einkriegen konnte, wie toll Haus, Lage und Wohnung seien".

Dass Sachverständige viel zu tun haben und mitunter auch die einzigen Profiteure der verfahrenen Situation sind, kritisieren auch Vertreter der Immobilienwirtschaft hinter vorgehaltener Hand. DER STANDARD hat einen der viel beschäftigten Gutachter kontaktiert, der wollte zur aktuellen Lage aber nichts Zitierfähiges sagen und lieber über früher reden, über das Zustandekommen des Richtwertsystems.

Anfang der 1990er-Jahre kam es nämlich zu Vorgängen, die heute Fragen aufwerfen. Die Bundesländer sollten Errichtungskosten geförderter Wohnungen ans Justizministerium melden und wandten dabei unterschiedliche Methoden an. In Wien kam dabei ein vergleichsweise niedriger Richtwert heraus.

Eine gewisse "Marktkomponente" im System sollte eben von Beginn an der Lagezuschlag gewährleisten. Anfangs gab es darum keine großen Kämpfe, denn in den 1990er- und Nullerjahren gab es keinen starken Zuzug in die Stadt, und die heute so begehrten Lagen in Gürtelnähe waren damals noch unsaniert und wenig attraktiv.

Gürtel-Lagen wurden attraktiv

Mit der Zeit änderte sich das stark. Gründerzeithäuser wurden saniert, die inneren Bezirke wurden immer begehrter unter jungen Wohnungssuchenden. Und die Stadt hat in diesen aufstrebenden Lagen dann auch recht bald einen vernünftigen Lagezuschlag ausgewiesen, berechnet anhand der stetig steigenden Grundkosten.

Dann kam das erwähnte OGH-Urteil, und das Klima verschärfte sich. Heute schätzt auch Georg Flödl, Präsident des Österreichischen Verbands der Immobilienwirtschaft (ÖVI) und selbst Sachverständiger, die Situation als "katastrophal für alle Beteiligten" ein: Mieter, Vermieter, Hausverwalter, Hauseigentümer – "niemand weiß, ob hält, was man ausmacht." Die Kritik, dass Gutachter "zu nahe" an der Immowirtschaft dran seien, will er aber nicht hinnehmen. "Es ist doch besser, wenn das jemand macht, der eine Immobilien-Ausbildung und eine Zertifizierung hat."

Für Flödl ist nun in erster Linie die Stadt Wien gefordert, ihre "weltfremde" Lagezuschlagskarte zu reformieren. "Denn diese stelle heute eine rechtsunverbindliche Einzelmeinung der Stadt" dar, die "nicht immer Gültigkeit besitzen muss".

Für Mieterschützerin Hanel-Torsch ist hingegen in erster Linie die Bundesregierung gefordert, für ein neues Mietrecht zu sorgen. "Das Gesetz hat den Sinn, für leistbare Mieten zu sorgen", doch es führe sich selbst "ad absurdum". (Martin Putschögl, 1.5.2021)