Wenn es wirklich wichtig wird, versteht die Gewerkschaft, die Arbeitnehmer zu mobilisieren. Aber nur drei von zehn Beschäftigten sind auch Mitglieder.

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In den alten Zeiten, als die Betriebe und vor allem deren Belegschaften noch größer waren, da wussten die älteren Kollegen von einem heute schwer vorstellbaren Ritual zu erzählen: "Am ersten Arbeitstag ist der Betriebsrat gekommen und hat zwei Formulare hingelegt: Beitrittserklärung zur Gewerkschaft und Beitrittserklärung zur Sozialistischen Partei. Da hast unterschrieben, dann hast dazug’hört. So einfach war das damals."

Ja, eh. Die Sozialistische Partei heißt allerdings seit 30 Jahren wieder Sozialdemokratische Partei. Den Betrieb, in dem man eine Lebensstellung zu haben glaubte, gibt es etwa gleich lang nicht mehr. Und die Gewerkschaft ist mehrfach umorganisiert worden.

So einfach wie damals ist nichts mehr.

Nicht für die Gewerkschaft, nicht für ihre Funktionäre, nicht für ihre Mitglieder. Und schon gar nicht für jene Arbeitnehmer, die nie Gewerkschaftsmitglieder geworden sind.

Sei es, weil sie gefürchtet haben, wie im zitierten Beispiel parteipolitisch punziert zu werden, sei es, weil sie gar nie vom Betriebsrat angesprochen wurden – es hätte ja durchaus auf eine weniger aufdringliche Art sein können. Oder weil sie schlicht nicht wahrnehmen, dass ihnen eine Gewerkschaftsmitgliedschaft etwas bringt.

Sinkender Organisationsgrad

In den verbliebenen Großbetrieben gehört die Zugehörigkeit zur Gewerkschaft weiterhin für viele Beschäftigte zum Selbstverständnis. In einigen Bereichen des öffentlichen Dienstes ebenso. Aber insgesamt ist der Organisationsgrad der heimischen Beschäftigten massiv gesunken. Vor 40 Jahren waren 60 Prozent der Beschäftigten in einer der damals 15 Teilgewerkschaften des ÖGB organisiert, was der 1997 verstorbene Gewerkschaftshistoriker Fritz Klenner schon damals als unbefriedigend niedrig bewertet hat.

Inzwischen ist die Zahl der unselbstständig Beschäftigten von 2.945.180 (zuzüglich 69.295 Arbeitslose im Jahresschnitt 1981) auf 3.772.100 (zuzüglich 520.919 Personen in Arbeitslosigkeit oder Schulung) zum Jahresende 2020 gestiegen. Der Mitgliederstand des Gewerkschaftsbunds liegt bei 1.198.919 Personen – rund 470.00 weniger als vor 40 Jahren.

Damit sind nur noch rund 28 Prozent aller Arbeitskräfte gewerkschaftlich organisiert.

Aber alle Unselbstständigen profitieren von der augenscheinlichsten Aktivität der Gewerkschaften: der Ausverhandlung von – meist jährlichen – Erhöhungen der kollektivvertraglich vereinbarten Mindestlöhne und Gehälter. Rund 800 Kollektivverträge (KV) gibt es in Österreich, und um die meisten wird ziemlich heftig gerungen.

Die berühmte "Benya-Formel"

Dazu setzen sich alljährlich Verhandlungsteams der Gewerkschaft – typischerweise Betriebsräte und eine hauptamtliche Funktionärin oder ein hauptamtlicher Funktionär – mit den Vertretern der Arbeitgeber zusammen. Sie interpretieren für ihren Wirtschaftsbereich und das jeweils nächste Jahr neu, was nach Anton Benya, dem ÖGB-Präsidenten von 1963 bis 1987, die "Benya-Formel" genannt wird. Diese besagt, dass die Steigerung der Bezüge aus der Teuerung plus einem Anteil am allgemeinen Wirtschaftswachstum zu bestehen hat.

Aber das blieb in den vergangenen Jahren immer öfter Theorie, weil das Wirtschaftswachstum entweder wie im vergangenen Jahr ganz fehlt oder sehr ungleich über die Branchen verteilt ist – und die Arbeitgeber vieler Branchen wenig Spielraum haben, mehr Geld auf die Gehaltskonten ihrer Mitarbeiter zu überweisen. Im Gegenteil.

Mehr denn je stehe die Drohung im Raum, Produktionen aus Österreich abzuziehen oder die relativ gut bezahlten Stammmannschaften durch billigere Leiharbeiter zu ersetzen, weiß Willi Mernyi, Leitender Sekretär des ÖGB: "Da gibt es eine gewisse Form der erhöhten Erpressbarkeit", sagt der sonst so kämpferische Gewerkschafter diplomatisch.

Wenig Anzreiz für Streit

Tatsächlich tut sich die Gewerkschaft schwer, mit Arbeitskämpfen zu drohen, wenn in vielen Betrieben nur ein kleiner Teil der Belegschaft organisiert ist. Und umgekehrt fragen sich wohl auch die Mitglieder, ob es sich lohnt, für relativ kleine Beträge einen großen Wirbel zu machen.

Hier spielt die Psychologie mit: Da die Inflationsrate im Jahresschnitt 2020 bei 1,4 Prozent gelegen ist, geht sie eben nur mit diesem geringen Prozentsatz in die Benya-Formel ein – da können ein paar Zehntelprozent noch draufkommen, wenn die Wirtschaft gut läuft oder wenn die KV-Verhandler geschickt agieren. Aber letztlich ist allen bewusst: Ein Zehntelprozent, das ist ein Promille, also ein Tausendstel, des Monatslohns – wenig Anreiz, im Streit darum die Arbeit niederzulegen.

Mehr als nur das Entgelt

Zudem vertritt die Gewerkschaftsseite in KV-Verhandlungen oft weitere sozialpolitische Ziele: So geht es in etlichen Branchen darum, die Mindestgehälter auf 1500 Euro zu erhöhen – was für die Geringverdiener meist eine deutlichere Erhöhung bedeutet, als es dem als Einigung verkündeten Prozentsatz entspricht.

Und wenn bei den Arbeitgebern wirklich nicht mehr Geld durchzusetzen ist, dann gelingt es manchen gewerkschaftlichen Verhandlern, Kleinigkeiten im Rahmenrecht zu verbessern, die die Verhandler der Arbeitgeberseite eher vertreten können als üppige Abschlüsse: Da gibt es dann einen zusätzlichen freien Tag hier oder eine höhere Zulage dort.

13. und 14. Gehalt nur durch den KV

Auf diese Weise ist übrigens das Urlaubs- und Weihnachtsgeld in den 1950er-Jahren in die Kollektivverträge gekommen – damit verdienen die österreichischen Arbeitnehmer auf den ersten Blick etwas weniger –, was den Unternehmervertretern weniger Bauchweh bereitet, weil es den Wirtschaftsstandort attraktiv erscheinen lässt. Dafür wird dieser optisch geringer scheinende Betrag dann 14-mal ausbezahlt. Umgekehrt gäbe es ohne KV weder Urlaubs- noch Weihnachtsgeld.

Das ist gelebte Sozialpartnerschaft – und gerade in der jetzigen Krise hat sich das gute Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gelohnt. Auf betrieblicher Ebene hätten Unternehmer eine verlässliche Beziehung zum Betriebsrat schätzen gelernt und in einigen Fällen von sich aus auf die Gründung von Betriebsräten gedrängt, erzählt Mernyi.

Und auf Ebene der Spitzenorganisationen – also Gewerkschaftsbund und Wirtschaftskammer – habe man sich schneller auf Hilfsmechanismen einigen können als die politischen Parteien.

Verlässlichkeit in der Krise

Zumindest in Krisenzeiten ist auf die gute alte Sozialpartnerschaft also noch Verlass. Das zeigt auch der wöchentlich von der Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft gemeinsam mit dem Linzer Market-Institut erstellte Vertrauensindex für den ÖGB: Dabei vergeben die Befragten Schulnoten für das Vertrauen in Institutionen, seit Beginn der Corona-Pandemie liegt die Durchschnittsnote für die Gewerkschaft bei 2,67 (mit geringen Abweichungen von 2,49 bis 2,81).

Allerdings ist das Vertrauen sehr ungleich verteilt: Zwei Drittel der SPÖ-Wählerschaft geben einen Einser oder Zweier. Besonders viele Vierer und Fünfer vergeben Anhänger von Freiheitlichen – und in etwas geringerem Ausmaß Anhänger von ÖVP und Neos.

Mernyi ist dennoch skeptisch, ob die momentane Wertschätzung der Sozialpartnerschaft von Dauer ist: "Wir sitzen jetzt am Tisch, weil man uns braucht. Wenn es darum geht, die Kosten für die Maßnahmen zu verteilen, werden wir uns unseren Platz am Tisch wieder erkämpfen müssen."

Zugute kommen viele der Krisenmaßnahmen allerdings nur Menschen in geregelten Beschäftigungsverhältnissen. Auch wenn sich einzelne Gewerkschaften darum bemühen, freie Dienstnehmer als Mitglieder zu gewinnen – etwa mit der Interessengemeinschaft flex@work der Privatangestelltengewerkschaft GPA: Aktiv werden die Gewerkschafter nur für jene, die ihnen auch beitreten.

Und das müssen, allein um den Mitgliederschwund durch natürliche Abgänge auszugleichen, jährlich 70.000 Menschen tun. Im Krisenjahr 2020 waren es immerhin 58.926. (Conrad Seidl, 1.5.2021)