"Nach 100 Tagen der Rettung und Erneuerung ist Amerika bereit zum Abheben." Dieses messianische Zitat entstammt der Kongress-Rede von Joe Biden anlässlich seiner ersten 100 Tage im Amt. Klar, diese Art von Ansprachen ist nicht dazu angetan, Zurückhaltung zu üben. Es muss dick aufgetragen werden: "Wir arbeiten wieder. Träumen wieder. Entdecken wieder. Führen die Welt wieder an." In der Krise muss man vorlegen und klotzen.

Biden kann sich tatsächlich schon einiges auf die Plus-Liste schreiben. Nicht nur der Ton hat sich verändert: Biden hat die USA zu Impfweltmeistern gemacht, die pandemiegeschüttelte Wirtschaft zieht wieder an. Die transatlantischen Allianzen erholen sich von den Verwerfungen unter Donald Trump. Es herrscht wieder vorsichtige Aufbruchsstimmung in den USA. Umfassende Kritik gibt es nur am Grenzmanagement.

Der Sitz des Kongresses der USA in Washington, D.C.
Foto: AFP/Stefani Reynolds

Der erfahrene Pragmatiker hat zumindest innenpolitisch auch aus den Fehlern seines Vorvorgängers und Freundes Barack Obama gelernt, der zwar "Change" auf seine Fahnen schrieb, aber seine Präsidentschaft zu zögerlich, zu wenig visionär anging. In den USA eignet sich vor allem das erste Jahr einer Amtszeit zum Gestalten. Danach steckt die Politik schon wieder mitten im nächsten Wahlkampf, droht der Verlust von Mehrheiten bei den Zwischenwahlen. Biden hat 2021 zudem Glück im Unglück: Die historische Ausnahmesituation der Corona-Krise macht die US-Amerikaner aufgeschlossener als sonst für Reformen.

Gesellschaftliche Spaltung

Und Reformen sind bitter nötig. Die massive gesellschaftliche Spaltung und die Ungleichheiten in den USA sind vor allem eine Folge des großflächigen Sozialabbaus der letzten Jahrzehnte, der seinesgleichen in einer Demokratie sucht. Bidens Pläne können als umfassender Versuch der Reparatur dieser politischen Fehler gesehen werden. Das bereits genehmigte Corona-Hilfspaket, aber vor allem der geplante und in den US-Bundesstaaten beliebte Infrastrukturplan und der ehrgeizige "American Families Plan" wären damit quasi Bidens Variante von "America first".

Insgesamt will der Präsident sechs Billionen Dollar in die Hand nehmen. Zahlen sollen die Investitionen jedenfalls Wirtschaft, Industrie und Reiche über Steuererhöhungen, was für den konservativen Teil der USA einem Sakrileg gleichkommt. Niedrige Steuern und wenig Staat, das ist das uramerikanische Mantra der Republikaner, das die nach Trump zersplitterte Partei nach wie vor eint. Mit republikanischer Zustimmung kann Biden also nicht rechnen.

Macht nichts, könnte man meinen, schließlich haben die Demokraten im Kongress die Mehrheit. Vor allem der "American Families Plan" geht aber auch einzelnen Demokraten im Senat zu weit. Eine Zustimmung zu Bidens Plänen ist also längst nicht garantiert, auch wenn über einen Trick bei der Abstimmung im Senat teilweise eine einfache Mehrheit genügen könnte. Die Biden-Vision wird auf dem politischen Schlachtfeld Federn lassen. Dass ein sozialpolitisch großer Wurf übrig bleibt, der es verdient, mit dem legendären New Deal Franklin D. Roosevelts in einem Atemzug genannt zu werden, bleibt vor allem der Unter- und Mittelschicht in den USA zu wünschen.

All jenen, die das Schreckgespenst des Sozialismus bemühen, möchte man aus Europa zurufen: Wenn Verringerung der Kinderarmut, Klimaschutz oder bessere Bildungschancen Sozialismus bedeuten, dann ist es jetzt wohl Zeit dafür. (Manuela Honsig-Erlenburg, 29.4.2021)