Normalerweise wäre der Metallarbeiter Heinrich Belohlavek einer der Zehntausenden gewesen, die da lautstark den Achtstundentag fordernd dem Ring entgegenströmten. Doch an diesem 1. Mai 1910 hatte der 20-jährige rechte Läufer der Sportvereinigung Rudolfshügel zu tun, es musste von Favoriten rechtzeitig zur 15. Auflage des Monarchieklassikers gegen Ungarn auf die alte Hohe Warte in Döbling kommen.

Als der Schiedsrichter die Partie anpfiff, mochte sich der kleine Hackler aus Favoriten, der bei den immer beliebter werdenden Aufstellungswahlen in den Zeitungen kaum Stimmen erhalten hatte, etwas deplatziert gefühlt haben neben den feinen Herren vom WAC, den g’studierten Tekusch-Brüdern, oder gar dem Paul Fischel aus Prag, von dem es hieß, dass er bald seinen Doctor juris haben würde. Vielleicht war es aber auch der wilde Rush-Stil der noch per Abstimmung vom Verband aufgestellten Auswahl, der den Debütanten nicht gleich ins Spiel kommen ließ.

1. Mai 1910, Hohe Warte: Zum 15. Mal treffen im Monarchieklassiker die Auswahlen von Österreich und Ungarn aufeinander. Debütant Heinrich Belohlavek im Schneidersitz ganz links.
Foto: Privat

Aber wozu gab’s Adi Fischera, den ganz Wien nur als Fußballgott "Ra" verehrte? Schon nach drei Minuten besorgte er das 1:0. Die Antwort der Ungarn ließ nicht lange auf sich warten, doch der verlässliche Luigi Hussak stellte noch vor der Pause auf 2:1. Weil die zweite Hälfte drei Elfmeter, aber kein weiteres Tor brachte – Österreich vergab zwei, Ungarn einen –, durfte gefeiert werden. Und Heinrich Belohlavek beschloss den 1. Mai doch noch auf der Ringstraße. Beim obligaten Bankett im noblen Hotel de France.

Vorübergehende Klasse

Die Kritiken überschlugen sich am nächsten Tag nicht gerade vor Lobeshymnen über den Neuling, Die Zeit fand immerhin, dass "er sich überraschend gut in das übrige Ensemble eingefügt" habe. Gut genug, um im Oktober bei einem 4:3-Sieg im Städtespiel gegen Berlin wieder mit von der Partie zu sein.

Im Frühjahr 1911 fiel Belohlavek wegen eines unliebsame Schlagzeilen bringenden "Kaperversuchs" aus Teplitz in Ungnade, ein Jahr später schrieb ihn die Moderne illustrierte Zeitung für Reise und Sport ganz ab: "Eine Zeitlang berechtigte Belohlavek zu den größten Hoffnungen, er hat nur teilweise gehalten, was er versprach. Internationale Klasse zeigte er nur vorübergehend."

Heinrich Belohlavek, "rechter Half" und später auch Trainer des Sport-Clubs Rudolfshügel, der 1934 aufgelöst wurde.
Foto: "Mod. ill. Zeitung für Reise und Sport" 1912

Die Zeitungen! Konnten doch nicht einmal seinen Namen richtig schreiben (der österreichische Fußballbund kann es übrigens bis heute nicht). Meistens wurde er zum Bielohlawek. Ausgerechnet. Wie der polternde Hermann. Einer von Karl Luegers antisemitischen "Stammtischpolitikern".

In Favoriten blieb "Bielo" aber eine feste Größe. Obwohl nur 1,56 Meter hoch, war er das Kämpferherz der für ihre Rustikalität berüchtigten Rudolfshügel-Truppe. Dass das "Weißköpfchen" (so die deutsche Bedeutung seines tschechischen Namens) ein richtiger Sturkopf war, mussten seine Anhänger 1913 erkennen, als er justament zum erbitterten Bezirksrivalen Hertha wechselte, der sein Einzugsgebiet vor allem westlich der Favoritenstraße hatte, während die Rudolfshügler östlich davon zu Hause waren. Belohlaveks Entschuldigung: Er war genau auf dieser Grenzlinie geboren, die in seinem Geburtsjahr 1889 freilich noch Himberger Straße hieß.

Im Krieg waren die Dienste des Eisendrehers beim k. u. k. Eisenbahnregiment in Korneuburg gefragt. Diese ließen es zu, dass er im Februar 1916 seine Theresia heiraten konnte. Zehn Monate später kam Tochter Margarethe, 1918 der Achtstundentag. Da war er schon wieder Rudolfshügler. Und somit an den größten Erfolgen der Blau-Weißen beteiligt, die 1919 in der Vizemeisterschaft gipfelten.

Der "Arbeiterfußballer"

Da hatte Belohlavek bereits andere Sorgen. Er war im Saisonfinish wegen Insultierung eines Gegners bis zum Jahresende gesperrt worden. Wegen "beleidigenden Benehmens vor dem Struma", dem Straf- und Meldeausschuss, drohte ihm sogar die "Disqualifikation für immer". Dass die SV Rudolfshügel im selben Jahr dem Verband der Arbeiter- und Soldatensportvereine (VAS) beigetreten war und so in Opposition zu den alten Verbandsstrukturen stand, kam dem nunmehrigen "Arbeiterfußballer" dabei eher nicht entgegen.

Die Mannschaft des SC Rudolfshügel 1911.

Die aktive Karriere war damit praktisch zu Ende. 1920 blieb "der alte Bielo" Rudolfshügel noch als Sektionsleiter treu, 1921 wechselte er nach Klosterneuburg, 1923 trieben ihn die tristen wirtschaftlichen Verhältnisse in Wien nach Bielitz zur dortigen Hakoah.

Nach seiner Rückkehr versuchte er sich noch einmal als Spieler bei kleineren Vereinen, ehe er 1927 das Training der mittlerweile abgestiegenen Rudolfshügler übernahm. Der verpasste Wiederaufstieg und hohe Schulden führten dazu, dass der Klub der 1924 etablierten Profiliga den Rücken kehrte und sich 1928 der VAFÖ-Liga anschloss, der Vereinigung der Amateur-Fußballvereine Österreichs.

Am 10. Februar 1934 saß Heinrich Belohlavek erneut auf der Trainerbank, als Rudolfshügel mit einer 1:3-Niederlage in die Frühjahrssaison startete. Zwei Tage später schossen sozialistischer Schutzbund und christlichsoziale Heimwehr aufeinander.

Mit der VAFÖ-Liga war’s nach den Februarkämpfen vorbei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, der Belohlavek seit 1926 angehörte, wurde verboten, im April sein Verein, "von dem amtsbekannt ist, dass er im Sinne dieser Partei tätig war", per Verordnung aufgelöst, die Sportplätze der Arbeitersportvereine aufgeteilt. Über den Rudolfshügel-Platz an der Endstation der Straßenbahnlinie 66 freute sich die Polizeisportvereinigung.

Heinrich Belohlavek findet neue Betätigungsfelder. Sportlich schließt er sich im Juni 1934 der Fußballsektion der Wiener Berufsfeuerwehr als Trainer an, politisch begibt er sich in den Widerstand gegen den Ständestaat und wird am 11. Juli 1934 wegen "Verdachts marxistischer Betätigung" festgenommen. Im Dezember 1934 mangels Beweisen aus dem Anhaltelager Wöllersdorf entlassen, sitzen er und seine Frau noch mehrmals monatelang ein, bis im März 1938 Belohlaveks Braunauer Jahrgangskollege einmarschiert.

Bei Fross-Büssing, in der Brigittenau, bekommt der Eisendreher eine neue Arbeitsstelle. Er montiert Lastkraftwagen. Wozu diese dienen werden, muss ihm bald klar sein. 1938 oder 1939, heißt es später in der Anklageschrift, tritt er der KPÖ bei und gründet eine Betriebszelle. Monatlich sammelt er von gleichgesinnten Kollegen 15, 16 Reichsmark und liefert sie der Bezirksleitung ab. Bis er am 8. Juli 1941 in die Fänge der Gestapo gerät.

Die Erkennungsdienstliche Kartei, die die Gestapo am Tag der Inhaftierung, am 10. Juli 1941 angelegt hat.

Die nächsten 20 Monate verbringt er in der "Liesl" an der Roßauer Lände, im KZ Groß-Rosen, in den Gefängnissen Berlin-Moabit und Berlin-Plötzensee. Dann steht er mit sieben Mitangeklagten wegen "Vorbereitung zum Hochvorrat" vor dem Volksgerichtshof. Belohlaveks Verteidigung, das Geld nur für Familien inhaftierter Arbeiter gesammelt zu haben, zwar Flugschriften erhalten und weitergegeben zu haben, aber nie Mitglied der KPÖ gewesen zu sein, fruchtet nicht. Am 10. Oktober 1942 werden er und sechs Mitangeklagte zum Tode verurteilt.

Leebgasse 35. An diesem Haus fehlt seit 1957 die Gedenktafel für Heinrich Belohlavek.
Foto: Privat

Am 18. Februar 1943 lehnt Reichsjustizminister Dr. Otto Georg Thierack – wie in 97 Prozent der Fälle – eine Begnadigung ab. Am 2. März schreibt Heinrich Belohlavek einen Abschiedsbrief (unten die im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes aufliegende Abschrift).

"Der Henker von Berlin"

Pünktlich um 18.30 Uhr beginnt Scharfrichter Willi Röttger, "der Henker von Berlin", der zwischen 1942 und 1945 allein rund 6000 der 16.500 in der NS-Zeit vollstreckten Todesurteile vorgenommen haben soll, mit den Hinrichtungen der sieben Wiener.

Die Hände auf dem Rücken gefesselt, werden sie im Drei-Minuten-Takt von zwei Gefängnisbeamten vorgeführt. Von der Vorführung bis zum Vollzug benötigen Röttger und seine drei Gehilfen exakt 18 Sekunden. Belohlavek ist als Letzter an der Reihe. Der Zeitpunkt seines Todes wird mit 18.51 Uhr protokolliert.

Eine Gedenktafel für Heinrich Belohlavek gibt es seit 1957 nicht. 1951 an der Fassade seines Wohnhauses Leebgasse 35 angebracht, wurde sie sechs Jahre später wegen Renovierungsarbeiten wieder abmontiert. Der Hausbesitzer verweigerte eine Neuanbringung. Obwohl die Witwe Belohlavek bis zu ihrem Lebensende 1981 dort wohnte. (Horst Hötsch, 1.5.2021)