Juan Diego Flórez als Faust und seine Marguerite, Nicole Car.

Foto: Pöhn

Die angebliche Stadt der Liebe trifft in Frank Castorfs später erster Arbeit für die Wiener Staatsoper sich selbst: Das Paris der Uraufführungszeit von Charles Gounods Faust (1859) verschmilzt mit dem turbulenten Paris der 1960er, als Charles de Gaulle die Macht innehatte.

Eine architektonische Collage ermöglicht es: Aleksandar Denićs Miniatur-Paris vereint die real existierende Metrostation "Stalingrad" mit dem zierlichen Café. Auch zeigen die wasserspeienden Wesen von Notre-Dame stolz ihre Fratzen, während unter ihnen eine abgewirtschaftete Holzbaracke (einst eine Fleischerei) den Figuren Unterschlupf gewährt.

Beziehung kaputt

Nicht unweit davon haust Castorfs Marguerite in bescheidenen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts. Noch dauert es bis zur Begegnung mit Faust. Während sich der Doktor verzweifelt Triebkraft und juvenile Abenteuer zurückersehnt, geht bei seiner Zukünftigen offenbar per Telefon gerade eine Beziehung in die Brüche. Marguerite ist traurig; sie gönnt sich in ihrer kleinen Bude ein paar Züge aus der Opiumpfeife zwecks Traumrealität. Als durchaus lebenslustiges Wesen, das Abenteuer sucht, wird sie von einer Kamera aber auch bei einem romantisch-zweideutigen Tänzchen mit Siebel (ausdrucksstark Kate Lindsey) erwischt.

Nicole Car zeigt Marguerite als Frau auf dem Pfad des Hedonismus. Sie verfügt über ein cremiges Timbre, welches zwar nicht in allen Lagen konsistent bleibt. Zum Schluss steigert sie sich jedoch zu dramatischer Pracht, wenn Castorf diese Marguerite zum autoaggressiven Ende drängt. Sie kippt Giftiges in ihr Sektgläschen.

Dynamische Emotion

Der Regisseur hat die Figuren in ein bohemienhaftes Paris der Widersprüche gepflanzt. Während sich die Metropole ausgelassen feiernd um die eigene Achse dreht, wird auf zwei Leinwänden nicht nur das mit Echtzeitkamera vergrößerte Geschehen transparenter, was die Unmittelbarkeit der Emotionen dynamisiert. Castorf vermittelt auch immer reale Nebenszenen und dabei auch die kolonialistisch-kriegerische Seite dieser Gesellschaft.

Inhaltliche und atmosphärische Brechungen, Kontraste und kommentierende Zitate sind also Teil einer inszenatorischen Polyfonie: Besungener Kriegskitsch (guter Staatsopernchor) prallt auf Einblendungen zum Algerienkrieg.

In einer Seitenszene malt auch Soldat Valentin (Etienne Dupuis) Parolen an die Wand, die Algeriens Zugehörigkeit zu Frankreich blutrot fordern. Auch heile Welten werden entromantisiert: Beim Liebesturteln von Faust und Marguerite leuchten uralte Werbespots auf, in denen eine verklärte Familienkonsumwelt konstruiert wird.

Der Voodoo-Priester

Das Auge ist somit gut beschäftigt in dieser vielschichtigen Produktion – auch durch jenen, der alles lenken will. Méphistophélès tummelt sich in einen Gemischtwarenladen des Bizarren und Gruseligen, ist selbst ein Mischwesen: Er verbeißt sich in Faust als hungriger Vampir, durchsticht Puppenherzen mit Nadeln in der Art eines Voodoo-Priesters. Bringt er jedoch Flüchtlingen Matratzen, ist er nabelabwärts mit Fell und Hufen versehen. Adam Palka ist als Méphistophélès ein robuster, vielleicht etwas monoton polternder Advokat des Düsteren, bei dem das christliche Kreuz gehöriges Unbehagen auslöst.

In seinem Element

Faust begegnet dem etwas wurstelprater-artig Ausstaffierten als Nervenbündel, das im künstlichen Licht neugewonnener Jugend erstrahlt. Juan Diego Flórez ist als Faust in seinem Element: Wuchtig-klare Spitzentöne versöhnt er mit nobler Linienführung im Lyrischen. Große Klasse. Auch darstellerisch ist vom Tenor in dieser filmisch, szenisch und räumlich verwinkelten Inszenierung Interessantes zu erleben, während auf Leinwänden Texte von Baudelaire und Rimbaud laufen.

Dirigent Bertrand de Billy, der in dieser Saison an die Staatsoper zurückkam, nachdem er in der Ära Dominique Meyer das Haus im Unfrieden verließ, pflegt mit dem Staatsopernorchester eine elegante Diktion, die frei von "Übersüßem" ist und wie ein subtiles Uhrwerk funktioniert. Durchaus aber wird Szenen emotionale Tiefe verliehen, wenn es impulsiv wird und der Klang dieses Orchesters seine prachtvoll-dunkle Seite entfaltet.

Castorfs Inszenierung der vielen Ebenen, die 2016 in Stuttgart entstand und in der Walpurgisnacht Wesen mit Skelettmasken präsentiert, wird am 19. 5. live zu erleben sein. Sollte das Haus öffnen dürfen. (Ljubiša Tošić, 30.4.2021)