Wienerberg, ohne Galgen: Jakob von Alts "Blick auf Wien von der Spinnerin am Kreuz" von 1817.
Foto: albertina wien

Wen dieses Bild nicht mit Fernweh erfüllt, der hat keine Reise ans Meer verdient: In Caspar David Friedrichs "Blick auf Arkona" ist gerade der Mond am Horizont aufgegangen; Nebel und Wellen tragen sein Licht bis zum felsigen Ufer, wo ein Kahn liegt. Alles in dieser Ostseelandschaft verströmt Atmosphäre, sie bietet Eintauchen und Umhülltwerden von erhabenen Naturgewalten. Der Besuch der Albertina-Schau "Stadt und Land. Traum & Realität" lohnt schon allein ob dieses romantischen Meisterwerks.

Zurück zu den eigenen Beständen, heißt es dieser Tage in den Museen. Solange die Corona-Krise andauert, werden Kunstwerke international ungern verliehen. Außerdem mangelt es an den Touristenmassen, die Blockbuster erst rentabel machen. Glücklich all jene Institutionen, die derart viel besitzen, dass ihre Depots ihnen noch Überraschungen bescheren.

So geschehen bei der Schau von Landschaftsbildern auf Papier, die nun in der Albertina die Lücke der verschobenen Edvard-Munch-Ausstellung füllt. Kuratorin Eva Michel hat die Grafikschau in wenigen Monaten aus der rund eine Million Objekte umfassenden Sammlung gestampft. Dafür sichtete die Expertin für niederländische Kunst unzählige jener Klebe-Alben, in denen Zeichnungen und Drucke seit Jahrhunderten aufbewahrt werden. Unterschätzte, noch nie präsentierte und sogar unbekannte Blätter kamen zutage.

Der Begriff des "Landschaftsmalers" taucht erstmals in den Schriften von Albrecht Dürer auf, der damit seinen Kollegen Albrecht Altdorfer lobend erwähnte. Hier "Die große Fichte" von Altdorfer (1517–1520).
Foto: albertina wien

Land, Wasser, Realismus, Fantasie

Der Begriff des "Landschaftsmalers" taucht erstmals in den Schriften von Albrecht Dürer auf, der damit seinen Kollegen Albrecht Altdorfer lobend erwähnte. Altdorfers händisch kolorierte Radierung "Die kleine Fichte" trägt ein Schild mit den Initialien des Künstlers an ihren Stamm genagelt. In Postkartengröße kommt Dürers Ansicht von "Isprug" daher: So schrieb der Künstler selbst auf sein Bild der Tiroler Hauptstadt. 1494/95 war Dürer noch von der mittelalterlichen Kunst geprägt, was sich in der Verlängerung der Türme zeigt. Kein Vergleich zu seiner ungeheuer modern wirkenden Federzeichnung des Hafens von Antwerpen, den er 25 Jahre später einfing.

Mit Markierungspunkten auf den Pflastern Venedigs wurde die Lagunenstadt bereits um 1500 so genau vermessen, dass Jacopo de’ Barbari eine detailgetreue Ansicht in Vogelperspektive schaffen konnte. Sogar die unterschiedlichen Fassaden der Häuser sind in dem fast drei Meter langen Holzschnitt erkennbar. Vergrößert sind Markusplatz, Dogenpalast und Arsenal dargestellt, damit diese Machtzentren gleich ins Auge springen.

Die Ausstellung hat gut daran getan, nicht nur Naturbilder, sondern auch Veduten, Seestücke oder Kartografien aufzunehmen. Die Schwerpunkte der chronologischen Ausstellung zeigen, welche Vorstellungen und Tendenzen dieses Genre im Verlauf der Kunstgeschichte erlebte. Mal hat das Pendel mehr in Richtung Realismus, mal mehr in Richtung Fantasie ausgeschlagen. Konstruktionen bleiben aber auch die noch so naturgetreu anmutenden Bilder.

Sehnsucht der Städter: idyllische Natur von Adrian Zingg.
Foto: albertina wien

Sehnsucht, Ruinen und Alpen

Zu den Highlights zählen die Flachlandschaften aus dem Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst. Rembrandt spazierte gerne mit seinem Skizzenbuch vor die Tore Amsterdams hinaus und zauberte mit wenigen Federstrichen Felder samt Kanälen und Windmühlen aufs Papier. Durch Lavierungen, also dünne Farbschichten, ließ er dunkle Wolken über seinem Kleinod "Bauernhäuser vor gewittrigem Himmel" aufziehen.

Die Sehnsucht des Städters nach idyllischer Natur tritt im Lauf der Geschichte immer stärker hervor. Der Bogen führt von den überwachsenen Ruinen und Tempelansichten des französischen Rokoko bis zu Rudolf von Alts Alpenlandschaften aus dem 19. Jahrhundert, bei denen man sofort in die Wanderschuhe hüpfen möchte. Zwei stimmungsvolle Nachtbilder des vergessenen Symbolisten Ludwig Rösch um 1900 schaffen den Übergang zur Moderne.

Zerfranstes Ende

Leider franst die Schau am Ende aus. Zu unterschiedlich sind die künstlerischen Strömungen, die hier in ein Ausstellungskapitel gesteckt wurden. Die düsteren Straßenbilder eines Alfred Kubin gegenüber von den abstrahierten Landschaften eines Paul Klee oder von August Mackes strahlenden Aquarellen, das geht sich nicht wirklich aus.

Da geht man lieber retour und vertieft sich noch einmal in Jakob von Alts "Blick auf Wien von der Spinnerin am Kreuz" von 1817. Wo heute der Verkehr über die sechsspurige Triester Straße braust, fuhren einst Pferdewägen über die Neustädter Poststraße gen Zentrum. Schafe und Kühe grasten friedlich vor der fernen Kulisse von Belvedere, Karlskirche und Steffl. Die Galgen der Hinrichtungsstätte, die zu jener Zeit noch am Wienerberg standen, hat der Maler vorsorglich ausgespart. (Nicole Scheyerer, 2.5.2021)