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Valentin Inzko, hier auf einem Archivbild von 2016, hat große Ideen für die Zukunft des einstigen Bürgerkriegslands – das auch heute wieder unter Spannungen leidet.

Foto: REUTERS/Dado Ruvic

STANDARD: Ihre Amtszeit endet bald. Wie sieht es mit Ihrem potenziellen Nachfolger Christian Schmidt aus?

Inzko: Das russische Außenministerium hat sich wiederholt und in aller Klarheit für die Schließung des Büros des Hohen Repräsentanten ausgesprochen. Jetzt hängt also alles vom Kreml ab. Für Putin ist jedoch vor allem die Pipeline Nord Stream wichtig, der Impfstoff Sputnik, die Ukraine. Schmidt, ein hervorragender Kandidat, hat aber sonst von allen Unterstützung, von den USA, Kanada, Japan, der Türkei und den Europäern. Russland hat bisher jeder neuen Ernennung zugestimmt. Ich hoffe deshalb, dass dies auch diesmal der Fall sein wird.

STANDARD: Kürzlich wurde ein "Non-Paper", also ein inoffizielles Papier, öffentlich, in dem der Vorschlag gemacht wird, dass es neue Grenzziehungen entlang ethnischer Linien auf dem Balkan geben soll. Welche Auswirkungen hat die Veröffentlichung solcher Vorschläge auf die Bürgern hier in Bosnien-Herzegowina, die noch vom Krieg traumatisiert sind?

Inzko: Die Bosniaken sind sehr geduldig, die Leidensfähigkeit ist enorm. Aber eine Mitarbeiterin von mir hat nach der Veröffentlichung des Papiers bei der Morgenbesprechung geweint. Sie hat Angst, dass Kräfte außerhalb von Bosnien-Herzegowina die Verschiebung der Grenzen und den Zerfall des Staates tatsächlich erwägen. Der "friedliche Zerfall von Bosnien-Herzegowina" ist ein Oxymoron. Denn er wird weder friedlich sein, noch wird es einen Zerfall geben. Manche Leute verfallen in Depressionen oder wandern aus. Auch wenn alles nicht passieren wird, ist das Klima dennoch vergiftet. Ein Bosnier hat kürzlich gesagt: "Auch 'Mein Kampf' (Hitler-Hetzschrift, Anm.) war zunächst ein Non-Paper." Jeder, denke ich, der die Grenzen verändern will, sollte zunächst einmal die Soldatenfriedhöfe in Europa besuchen, bis hin nach Stalingrad.

STANDARD: Im Non-Paper wird auch Südtirol angesprochen.

Inzko: Aber das ist genau das Gegenmodell: Denn Nordtirol, Südtirol und Osttirol sind eine Region, aber ohne Veränderung der Grenzen. Und in diesem rein regionalen Sinn könnte es unter der Schirmherrschaft der EU auch ein Großserbien, Großalbanien und Großkroatien geben. Denn jemand, der in Bijeljina lebt, wird wohl Richtung Belgrad tendieren, jemand, der in Banja Luka lebt, vielleicht nach Zagreb. Und in der Herzegowina schaut man Richtung Dalmatien. Die Grenzen aber dürfen unter keinen Umständen verändert werden. Denn damit würde man die Büchse der Pandora öffnen. Und in der Büchse der Pandora waren wirklich alle Übel der ganzen Welt enthalten: Krankheiten, Pandemien, der Tod! Diese Büchse darf keinesfalls geöffnet werden. Und dieses Non-Paper ist ein Versuch der Öffnung dieser schrecklichen Büchse. Aber auch nur die Debatte darüber ist bereits toxisch.

STANDARD: Welche politischen Auswirkungen hat diese Diskussion in Bosnien-Herzegowina?

Inzko: Der Chef der größten bosnisch-serbischen Partei, der SNSD, Milorad Dodik, geht nun einen Schritt weiter. Er beabsichtigt, eine Kommission für Verhandlungen betreffend eine "friedliche Auflösung von Bosnien-Herzegowina" zu bilden.

STANDARD: Das ist ja klar verfassungswidrig. Was werden Sie nun tun?

Inzko: Stimmt, und der Friedensimplementierungsrat des Daytoner Abkommens ist dem entschieden entgegengetreten. Denn nun sind alle roten Linien überschritten worden. Es wäre nämlich zu spät, wenn Dodik versuchen würde, die Abspaltung durchzuführen. Auch wer einen Bankraub "nur" versucht, wird bestraft. Zuerst hat er nur über ein "Referendum" gesprochen, dann hat er den Begriff der "Staatlichkeit" für die Republika Srpska eingeführt. Und jetzt redet er schon so darüber, als wäre das alles normal. Es eskaliert. Nun ist die Sezession im täglichen Sprachgebrauch. Das Klima wird immer giftiger. Viele Leute wandern aus. Und auf bosniakischer Seite heißt es jetzt: Diesmal werden wir vorbereitet sein.

STANDARD: Es gab ja schon vor drei Jahren Überlegungen zu Grenzänderungen, als es um einen Gebietstausch zwischen Serbien und dem Kosovo ging. Damals haben das sogar europäische Politiker wie die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini befürwortet.

Inzko: Ja, damals hat der ehemalige stellvertretende CIA-Balkan-Direktor Steve Meyer Vorschläge gemacht, die Grenzen auf dem gesamten Balkan zu ändern. Man muss Bosnien-Herzegowina jedoch mit solchen Papieren endlich in Ruhe lassen, auch die Nachbarn sollten Bosnien-Herzegowina in Ruhe lassen! Kroatien müsste sich auch darüber bewusst werden, dass die Kroaten in Bosnien-Herzegowina ein konstitutives Volk sind und keine Minderheit und deshalb auch so behandelt werden sollten. Das Problem ist jedoch, dass die Herzegowiner in Kroatien wahlberechtigt sind und drei Mandate im Parlament in Zagreb liefern können.

STANDARD: Sie haben bis Ende April eine Frist gesetzt, dass die Republika Srpska die Orden für Kriegsverbrecher wie Radovan Karadžić für nichtig erklärt. Was wird nun geschehen?

Inzko: Zuletzt, als man in der Republika Srpska sogar von einem Verhandlungsteam zur "friedlichen Auflösung von Bosnien-Herzegowina" gesprochen hat, war die Rede davon, dass man meine Frist ignorieren würde. Nach dem Motto: Der Inzko kann uns gestohlen bleiben. Die Frist habe ich gesetzt, weil ich am 4. Mai eine Sitzung mit dem UN-Sicherheitsrat habe und darüber berichten wollte. Nun, die Frist ist zwar abgelaufen, aber das Parlament der Republika Srpska hat diesen Tagesordnungspunkt auf den 10. und 11. Mai verlegt. Ich werde dementsprechend noch einige Tage warten, um zu sehen, wie man sich in Banja Luka entschieden hat. Ein weiterer Tagesordnungspunkt, der verschoben wurde, ist die Nominierung eines Verhandlungsteams zur friedlichen Auflösung beziehungsweise der Zukunft von Bosnien-Herzegowina. Auch darauf sollte ich Mitte Mai reagieren.

STANDARD: Die Orden wurden in der Republika Srpska im Namen des Volkes verliehen, und deshalb gibt es eine Art kollektiver Schuld für diese Ordensverleihung.

Inzko: Ja, es gibt deshalb eine kollektive Schuld für diese Ordensverleihung, aber es gibt keine kollektive Schuld für Kriegsverbrechen. Dennoch ist die Frage erlaubt: Gibt es eine kollektive Unschuld? Im Nazi-Reich haben ja auch viele mitgemacht, die Beamten zum Beispiel. Es geht aber nicht um die kollektive Schuld eines Volkes. Ich erinnere mich in dieser Angelegenheit noch an ein Gespräch mit dem späteren Minister Rasim Ljajić in Serbien, im Jahr 1992 im Sandschak, wo ich die OSZE-Mission geleitet habe. Er, der Bosniake, hat zu mir gesagt: "Inzko, es gibt keine schlechten Völker." Ich meine: Es gibt keine schlechten Völker, aber es gibt wohl schlechte Politiker, und die Serben hatten einige Male Pech mit ihnen. Wie mit Slobodan Milošević (ehemaliger jugoslawischer und serbischer Präsident, der den Krieg in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo vom Zaun gebrochen hat, Anm.). Wenn sie einen Guten hatten, dann wurde er umgebracht, so wie Ivan Stambolić (früherer Ministerpräsident und Präsident von Serbien, Anm.) oder Zoran Đinđić (ehemaliger Premierminister von Serbien, Anm.). Sicher ist allerdings – das ist die Erfahrung meines Lebens –, dass sehr viel von einzelnen Politikern abhängt. Stellen Sie sich vor, Nelson Mandela hätte nach seiner Freilassung, nach 28 Jahren im Gefängnis, gesagt: Jetzt kommt die Zeit der Rache.

STANDARD: In der Republika Srpska werden Kriegsverbrecher noch immer verherrlicht. Es gibt wenig Bewusstsein dafür, wie demütigend dies für die Angehörigen der Opfer ist.

Inzko: Ich bin sehr glücklich, dass der deutsche Außenminister Heiko Maas am 28. Oktober 2020 bei einer Rede an die Jugend des Westbalkans gesagt hat: "Es gibt in der EU keinen Platz für Staaten, die Kriegsverbrecher verherrlichen." Das ist eigentlich für mich ein neues Kriterium für die EU-Erweiterung: Staaten, die Kriegsverbrecher verherrlichen, haben keinen Platz in der EU. Ebenso Einzelpersonen. Was ich mir aber am meisten wünschen würde, wäre eine Katharsis, ein Umdenken, dass nämlich in der Republika Srpska die Leute sagen würden: Wir haben das begangen, es tut uns leid, lasst uns in die Zukunft schauen. Ein Umdenken wäre wichtig, denn viele anständige Serben sind in der Rhetorik der Politiker mitgefangen und sind unglücklich darüber. Es gibt aber auch positive Beispiele, so hat etwa Hasan Ahmetlić, ein Muslim in Tešanj, die Renovierung der katholischen Kirche finanziert. Oder: Serben haben in Trebinje nach einer Schmieraktion dem dortigen Hodscha geholfen, die Moschee zu reinigen. Solche Beispiele gibt es viele, aber auf höherer Ebene kaum. Und von den guten Beispielen hört man in den Medien eher selten.

STANDARD: Sie haben ein Gesetz unterstützt, das die Leugnung von Kriegsverbrechen und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern unter Strafe stellen soll. Neulich ist wieder ein Versuch im Parlament daran gescheitert, dass es keine Mehrheiten gibt. Was kann man nun tun?

Inzko: Kürzlich war ich bei der Schachpartie im Zentrum von Sarajevo auf dem Platz vor der orthodoxen Kathedrale. Dort spielen auch die Ärmsten. Da haben mich drei oder vier angesprochen und mir in die Augen geschaut und gesagt: "Inzko, bitte mach was mit dem Leugnungsgesetz!" Diese Menschen fühlen sich durch die Leugnung der Kriegsverbrechen gedemütigt. Gleichzeitig gibt es immer mehr Fälle, wo Kriegsverbrecher verherrlicht werden. In der ostbosnischen Stadt Foča wurde kürzlich an eine Wand ein Bild von Ratko Mladić gemalt, dem ehemaligen General, der wegen des Genozids in Srebrenica verurteilt wurde, mit der Aufschrift: "Gepriesen sei deine Mutter!" Dann tauchte ein Poster auf, auf dem Ratko Mladić und Milorad Dodik zum Geburtstag am 12. März gratuliert wurde. Es gibt leider immer mehr solcher Fälle.

STANDARD: Sie haben ja bereits einmal eine Frist gesetzt und waren erfolgreich damit. Dabei ging es um eine Tafel auf einem Studentenheim in Pale, die Dodik aufgehängt hatte und bei der es um die Verherrlichung von Karadžić ging.

Inzko: Dodik hat gezeigt, dass er ein Feigling ist, weil er die Tochter von Karadžić, Sonja Karadžić, gebeten hat, die Tafel zu entfernen. Dabei hat er sie selbst montiert! Eines will ich jedoch nochmals unterstreichen: Mir geht es um den Prozess des Umdenkens, den Läuterungsprozess, die Versöhnung, nicht um Bestrafung. Es geht darum, im welchem Staat künftige Generationen leben sollen.

STANDARD: Was kann man jetzt machen, damit die Verherrlichung von Kriegsverbrechern unter Strafe gestellt wird?

Inzko: Es gibt noch die Möglichkeit, dass ich einen weiteren entsprechenden Gesetzesentwurf einreiche. Genau gesagt geht es um Änderungen des Strafgesetzes. Die Politiker hätten dann drei Chancen gehabt, ein Gesetz im Parlament zu verabschieden. Aber wir wollen abwarten, was am 10. beziehungsweise 11. Mai im Parlament der Republika Srpska passiert. Es gibt noch einige Tage Zeit. Aber bereits heute kann gesagt werden, dass die Verherrlichung von Kriegsverbrechern nicht akzeptabel ist. Kürzlich wurde eine Staatsbürgerin in Österreich verurteilt, weil sie eine Geburtstagstorte mit zwei Buchstaben verziert hatte: mit zwei S, SS also. So etwas muss Konsequenzen haben!

STANDARD: Sehen Sie den politischen Willen, mit der Ideologie des Karadžić- und Milošević-Regimes aufzuräumen?

Inzko: Diesen Willen gibt es in der Politik nicht, und man kann mit der Verherrlichung von Kriegsverbrechern noch immer Stimmen und Wahlen gewinnen.

STANDARD: Dabei gibt es so großartige Serben wie Jovan Divjak, den General, der Sarajevo verteidigte und der kürzlich verstorben ist.

Inzko: Jovo war ein Schatz, ein Held und ein Charmeur! Seines war eines der traurigsten Begräbnisse, aber es lag auch etwas Feierliches in der Luft. Die ganze "Raja" (bosnisch für lokales, angesehenes Volk) war anwesend. Ich habe ihn einmal gefragt, warum er Sarajevo verteidigt hat. Und er hat gemeint: Valentin, wenn die Muslime Sarajevo angreifen würden, würde ich es ebenfalls verteidigen. Am selben Tag, als Divjak starb, wurde übrigens die neue Bürgermeisterin Benjamina Karić gewählt, die aus einer alten, multikulturellen Sarajevoer Familie stammt. Die Leute haben dies so kommentiert: Das alte Sarajevo kehrt zurück.

STANDARD: Zurzeit wird in Bosnien-Herzegowina wieder einmal über die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) diskutiert, welche die Diskriminierung von Juden und Roma und ingesamt die Diskriminierung von all jenen, die sich nicht zu den Bosniaken, Serben oder Kroaten zählen, aufheben sollen.

Inzko: Das erste Urteil des EGMR wurde 2009 gefällt. Aber wir müssen die Wahrheit sagen: Juden wie Jakob Finci und Roma wie Dervo Sejdić werden in diesem Staat seit 25 Jahren diskriminiert, nicht erst seit dem Urteil in Straßburg. Die Diskriminierung hat im Friedensvertrag von Dayton begonnen, da hat man den konstitutiven Völkern (Bosniaken, Serben, Kroaten, Anm.) die alleinige Macht gegeben und diese den anderen weggenommen, zum Beispiel den 16 Minderheiten oder Staatsbürgern aus gemischten Ehen. Diese dürfen für gewisse Funktionen nicht kandidieren. Dabei handelt es sich um 400.000 Menschen. Das muss aufhören!

STANDARD: Zurzeit wird hier über die Reform des Wahlgesetzes diskutiert. Wie sollte man da vorgehen?

Inzko: Erstens sollte man die Empfehlungen des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) und des Europarats und der Gruppe von Staaten gegen Korruption (Greco) umsetzen, dann alle Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, und schließlich sollte man trachten, dass das neue Wahlrecht zu keiner weiteren völkischen und territorialen Aufteilung des Landes führt. Die Verfassungsreform zur Umsetzung der Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs müsste vordringlich sein. Ein Wahlrecht haben wir ja bereits. Das sollte in zweiter Linie kommen.

STANDARD: Welche Rolle könnte nun die neue Regierung von Joe Biden in den USA hier spielen?

Inzko: Wir haben jetzt eine einzigartige Konstellation. Es gibt Amerikaner, die noch wissen, wo Bosnien-Herzegowina liegt und worum es beim Dayton-Vertrag geht. Der jetzige US-Außenminister Antony Blinken hat während des Bosnien-Kriegs die hervorragenden und expliziten Reden für Joe Biden im US-Senat geschrieben. Er wurde dadurch sozialisiert. Aber was ebenfalls wichtig ist: Blinkens Stiefvater war ein ungarischer Jude, der unter anderem in Auschwitz, Majdanek, Sachsenhausen und Dachau gewesen ist. Dem braucht man also von Genozid nichts zu erzählen. Aber wir müssen ehrlich sein: Es gibt viel ältere Probleme, viel neuere und viel größere Probleme als Bosnien-Herzegowina. Dennoch gibt es jetzt wahrscheinlich die letzte Chance, dass wir mit den Amerikanern noch etwas gemeinsam machen, Europa und Amerika. Denn Bosnien-Herzegowina wird wegen anderer und größerer Probleme möglicherweise bald niemanden mehr interessieren. Einige meinen auch zynisch, es gibt ja kein Erdöl dort. Aber Bosnien-Herzegowina sollte die Europäer sehr wohl interessieren. Dringend! Denn unsere Sicherheit beginnt am Balkan. Ich denke hier an den Waffenhandel, den Drogenhandel, die Kriminalität. Früher oder später kommt das ja auch alles zu uns. (Adelheid Wölfl, 3.5.2021)