Warum trifft der Sprachwandel den Nerv großer Teile der Bevölkerung?

Was sprachwissenschaftlich unaufgeregt als Selbstverständlichkeit betrachtet wird, sorgt außerhalb der einschlägigen Forschung seit jeher für Weltuntergangsstimmung: der Sprachwandel. Die Beobachtung, dass Sprache sich verändert, löst Verlustängste und Alarmismus aus. Der Dialekt stirbt, die Standardsprache verkommt, das bundesdeutsche Deutsch verdrängt österreichische Sprachmerkmale. Die Schriftsprache verkümmert auf Whatsapp, "Denglisch" ist auf der Überholspur, und was von der deutschen Sprache noch übrig ist, vermischt sich mit den Herkunftssprachen der Migrantinnen und Migranten zu einem Kauderwelsch …

Erleben der "Welt"

Was aber steckt hinter solch schrillen Tönen? Warum trifft der Sprachwandel den Nerv großer Teile der Bevölkerung – und das nicht erst heutzutage, sondern seit Jahrhunderten? Oder, anders gefragt: Warum verfällt die deutsche Sprache, seit es sie gibt?

Zuallererst ist Sprache nicht das einzige, wohl aber effizienteste und komplexeste Zeichensystem, mit dem wir Menschen kommunizieren. Doch sie ermöglicht noch mehr als dieses entscheidende (Sich-)Mitteilen in gesprochener und geschriebener Form. Das Wahrnehmen beziehungsweise Erleben der "Welt", unser gesamtes Bewusstsein ist ebenfalls sprachlich geprägt. Was herkömmlicherweise als "Denken" gilt, ist meist ein stummes Sprechen (mit sich selbst). Weiters sind gesellschaftliche Verhältnisse immer auch das Ergebnis sprachlicher Interaktion und Reflexion. Darüber hinaus verbinden wir mit allen Sprachen und deren Erscheinungs- beziehungsweise Gebrauchsformen (Dialekt, Jugend-, Standard-, Fachsprache usw.) bestimmte positive und negative, meist klischeehafte Vorstellungen und Emotionen.

Fragen der Identität

Diese in der Sozialisation erworbenen Einstellungen zu (bestimmten Formen von) Sprache und deren Sprecherinnen und Sprechern werden verknüpft mit sozialen, politischen, geografischen und anderen Assoziationen, die unser Denken und Handeln stark beeinflussen können. Es zählt nicht nur, was gesagt oder geschrieben wird – mindestens ebenso wichtig ist das Wie, also die (Sprach-)Form, der Kommunikation. Daran knüpfen sich Fragen der Identität, der Macht und Ohnmacht, der lebensweltlichen Orientierung und noch mehr. Die Sprache ist somit auf vielfältigste Weise sowohl Voraussetzung als auch Produkt jener Zusammenhänge, in die der Mensch existenziell eingebunden ist. Es gibt keine Gesellschaft ohne Sprache und keine Sprache ohne Gesellschaft.

Der STANDARD beschäftigt sich ab sofort in einer ressortübergreifenden Serie mit dem Thema Sprachwandel.

Vor diesem Hintergrund ist einsehbar, warum es beim Sprachwandel für die Menschen ans "Eingemachte" geht. Bereits geringfügige Veränderungen der Aussprache, des Wortschatzes oder der Grammatik stoßen auf Ablehnung. Das aus linguistischer Sicht Irrationale an dieser – psychologisch nachvollziehbaren – Haltung ist nun der Wunsch, den Sprachwandel (und damit die gesellschaftliche Veränderung) aufzuhalten. Denn letztlich sind auch jene Sprachformen, die man als "ursprünglich" bewahren will, das Produkt fortwährender Veränderungen, eine Momentaufnahme im ständigen Fluss der Zeit.

Der Dialekt fiel nicht vom Himmel

Der "echte" Dialekt der Landbevölkerung unserer Großelterngeneration ist nicht fertig vom Himmel gefallen, sondern in kontinuierlichem Wandel geformt worden. Die nostalgische Verklärung archaischer Dialektausdrücke steht neben der Tatsache, dass gegenwärtig kaum noch vier Prozent der österreichischen Bevölkerung in der – durch Modernisierung völlig veränderten – Landwirtschaft arbeiten.

Die Bäuerin und der Bauer von heute surfen mit dem Smartphone im Internet, und ihr Dialekt hat sich im Vergleich zu früheren Zeiten verständlicherweise verändert. Blicken wir weiter nach Wien: Zahlreiche "urwienerische" Ausdrücke zeugen vom Kontakt mit fremden Sprachen. "Beisl" und "Hawara" etwa kommen aus dem Jiddischen, "Bassena" und "Gspusi" aus dem Italienischen. Die Liste ist lang.

"Mundl-Wienerisch"

Das "Mundl-Wienerisch" der 1970er-Jahre wurde ursprünglich durch Zuwanderung mitgeprägt. Wenn sich also heutzutage Jugendliche mit verschiedensten Familiensprachen beim Fußballspielen im Park "Schieß Ball her!" zurufen oder wenn im Supermarkt "Haben Sie Billa-Card?" gefragt wird, zeichnen sich vielleicht bereits Merkmale des Wienerischen von morgen ab.

Wie aber steht es um das österreichische Standard- bzw. "Hoch"-Deutsch? Diese Sprachform, die auf die Abgrenzung von Deutschland im Zusammenhang mit dem "Nation-Building" der Zweiten Republik Österreich zurückgeht, ist ebenfalls nicht statisch. Im inzwischen achten Jahrzehnt unseres Staates steht das nationale Selbstbewusstsein der Bevölkerung außer Frage und muss nicht zwingend an sprachlichen Austriazismen festgemacht werden. Im Gegenteil: Ausdrücke wie "lecker", "Junge" oder "nee" stellen für die junge Bevölkerung offenbar keinen Widerspruch zur österreichischen Identität dar.

Deutsch, das ineinander fließt

Diese Generation wurde hineingeboren in die EU und ist mit der medialen und kommunikativen Vielfalt im Internet aufgewachsen. Dort fließen bundesdeutsches und österreichisches Standarddeutsch ineinander und vertragen sich mit dialektalen Elementen sowie Anglizismen. Dazu kommt die oft ohne Interpunktion verschriftete Chat-Sprache, während Ausdrücke globaler Popkulturen dem Ganzen Würze verleihen. Emoticons und Memes sagen ohnehin oft mehr als tausend Worte. Angesichts all dessen propagierte Katastrophenszenarien erinnern daran, dass bereits zu Zeiten des Sokrates der Jugend die Schuld am angeblichen Verfall Athens gegeben wurde.

Athen steht noch immer, und was heute als sprachlicher Untergang gilt, werden kommende Generationen als Ideal verklären, das vor dem Aussterben bewahrt werden muss. Welche Merkmale die deutsche Sprache dann aufweisen wird, lässt sich nicht absehen. Klar ist lediglich, dass sie nur dann "stirbt", wenn sie aufhört, sich zu wandeln. (Manfred Glauninger, 3.5.2021)