Belfast im Jahr 1974 – seit dem Vollzug des Brexits ist Nordirlands einst so blutig umkämpfte Hauptstadt wieder ein Ort von Unruhen.

Foto: AFP

STANDARD: Am Montag jährt sich die politische Teilung der irischen Insel zum 100. Mal. Gleichzeitig wird aber auch über eine mögliche Wiedervereinigung diskutiert ...

O'Loan: Das Datum selbst spielt hier gar keine Rolle. Das ist ja auch heikel. Mag sein, dass einige Unionisten feiern. Von offizieller Seite gibt es jedenfalls nichts dazu. Die Probleme in Nordirland hatten immer mit Identität zu tun.

STANDARD: Unionistische Protestanten wollen im Vereinigten Königreich bleiben, katholische Nationalisten streben die Wiedervereinigung an.

O'Loan: Es gibt auch eine erhebliche Anzahl von Menschen, die sich weder als Iren noch als Briten sehen, sondern ganz dezidiert als Nordiren. Bis zum Brexit waren wir eigentlich ein ziemlich einiges Volk. Aber der EU-Austritt hat Probleme gebracht, zwischen den Regierungen in London und Dublin und den Bevölkerungsgruppen hier.

STANDARD: Um die Landgrenze zwischen dem britischen Nordosten und dem EU-Mitglied Irland offen zu halten, gilt für Nordirland eine Sonderregelung. Sie ermöglicht den Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion.

O'Loan: Dadurch wurden Kontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien notwendig. Das hat erhebliche Handelsprobleme verursacht. Eine Reihe englischer Firmen liefert nicht mehr hierher. Neuerdings wird auch Quarantäne nötig, wenn Nordiren ihre Hunde nach England mitnehmen wollen.

STANDARD: Sie gehören einem Ausschuss des Oberhauses an, der nach Lösungen sucht. Wie soll das gehen?

O'Loan: Ich hoffe auf Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten, auch von der EU. Am Ende wird sich doch hoffentlich die Vernunft durchsetzen. Wenn die Handelsprobleme verschwinden, ändert sich auch die Diskussion über die Vereinigung. Diese wäre ja für beide Seiten, Nordirland und die Republik Irland, mit erheblichen Turbulenzen verbunden.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage nach dem innerparteilich erzwungenen Rücktritt von Ministerpräsidentin Arlene Foster?

O'Loan: Wir befinden uns sicher in einer beispiellosen Situation insofern, als in beiden großen Parteien Tumult herrscht. Und das in einer Phase, nach der Anfang April tagelang Krawalle stattfanden. Unter dem Auto einer jungen Polizistin wurde eine Bombe entdeckt, als sie ihre dreijährige Tochter in den Kindergarten bringen wollte. Man weiß in diesem Fall nicht, ob die Straftat von loyalistischen oder republikanischen Paramilitärs begangen wurde. Leider bleiben die Paramilitärs beider Seiten eine Bedrohung.

STANDARD: Der Tumult, von dem Sie sprechen, betrifft in erster Linie die größte protestantisch-unionistische Partei DUP. Der Favorit auf Ministerpräsidentin Fosters Nachfolge, Edwin Poots, leugnet die Evolution und hat gegen die Gleichstellung Homosexueller gestimmt.

O'Loan: Vielleicht ermöglicht ihm dies, die ähnlich denkende Parteibasis besser einzubinden. Aber er muss nicht nur mit den eigenen Leuten Kompromisse schließen, sondern auch mit den anderen Parteien in der Regionalregierung.

Nuala O'Loan: Jeden Tag so gut leben, wie wir können.
Foto: Privat

STANDARD: Nordirland wird seit dem Karfreitagsabkommen 1998 von einer Konkordanzregierung geführt. Den Vizeregierungschef stellt die größte katholisch-nationalistische Partei Sinn Féin.

O'Loan: Poots kann nur Ministerpräsident werden, wenn ihn die anderen Parteien akzeptieren. Sinn Féin hat schon gesagt, sie würden nur zustimmen, wenn ein Gesetz zur Gleichstellung der irischen Sprache verabschiedet wird.

STANDARD: Für Außenstehende sind die innerparteilichen Vorgänge nur schwer abzuschätzen. Die DUP ist aus der fundamentalistischen Sekte des Protestantenpredigers Ian Paisley hervorgegangen. Das spürt man immer noch, oder?

O'Loan: Das gilt für die beiden großen Parteien gleichermaßen. Sinn Féin verdankt ihre Existenz der IRA (der größten paramilitärischen Organisation auf irisch-republikanischer Seite, Anm.). Das macht sich bis heute bemerkbar.

STANDARD: Im Sommer 2020 nahmen Parteiführung und Parlamentsfraktion von Sinn Féin mit Tausenden am Begräbnis des IRA-Terroristen Bobby Storey teil. Dieser Verstoß gegen die Covid- Regeln blieb ungeahndet ...

O'Loan: ... ich fand die Szenen von Storeys Trauermarsch schändlich. In der Pandemie fiel es vielen Trauernden schwer, auf die traditionelle Anteilnahme am Tod von Nachbarn, Freunden und Verwandten zu verzichten. Aus meiner Sicht besteht kein Zweifel: Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Anklagen zu erheben, hat für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung gesorgt.

STANDARD: Der höchste Polizeibeamte der Republik Irland, Drew Harris, hat mitgeteilt: Sinn Féin wird vom Armeerat der IRA kontrolliert.

O'Loan: Das wird von vielen so gesehen. Harris ist gut informiert, ich akzeptiere, was er sagt.

STANDARD: Eine Regierungspartei Nordirlands und größte Oppositionskraft in der Republik Irland verstößt also gegen geltende Gesetze und untersteht dem Kommando von Terroristen. Ist Nordirland ein Rechtsstaat?

O'Loan: Sie müssen unsere Vergangenheit bedenken. Unsere Gesellschaft bleibt zutiefst traumatisiert. Schauen Sie sich nur unsere hohe Suizidrate und den schlimmen Drogenkonsum an. Oder beobachten Sie einmal, wie sich die Menschen in Cafés und Restaurants ihre Plätze aussuchen. Instinktiv überlegen sie: "Wie komme ich hier im Notfall am schnellsten raus?" Das Karfreitagsabkommen beendete 1998 einen fast 30-jährigen Bürgerkrieg. Der Preis für die Verhandlungen über eine wie auch immer geartete Spielart von Frieden war es, Sinn Féin an den Tisch zu holen.

STANDARD: Sie sind in England geboren und aufgewachsen. Warum gingen sie 1976, als der Bürgerkrieg tobte, nach Nordirland?

O'Loan: Ich hatte geheiratet. Zuvor war ich noch nie in Nordirland gewesen, wusste aber natürlich über die Situation Bescheid, nicht zuletzt durch die Familie meines irischen Vaters. Bald erhielt ich eine Anstellung als Jusdozentin. Und bedenken Sie immer auch: In den Straßen der größeren Städte explodierten Bomben, aber weite Teile Nordirlands blieben über die Jahrzehnte friedlich.

STANDARD: Ein Jahr nach Ihrer Ankunft wurden Sie selbst Opfer eines Bombenanschlags ...

O'Loan: ... der galt nicht mir, sondern der Fachhochschule in Jordanstown, wo ich unterrichtete. Ich war zum ersten Mal schwanger und verlor das Kind.

STANDARD: Und trotzdem verließen Sie Nordirland nicht?

O'Loan: Nein, das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich stand natürlich unter posttraumatischem Schock, hatte monatelang Albträume. Ich lebte in Terror. Aber ich wurde wieder schwanger, wir waren glücklich.

STANDARD:Wer war verantwortlich?

O'Loan: Es gab keine Bekennerschreiben, die Polizei konnte uns Opfern keine klare Auskunft geben. Viel später, nach dem Ende des Bürgerkriegs, hielt ich als Polizeiombudsfrau einen Vortrag in einem Republikanerviertel von Belfast. "Sie sind aus England, Sie haben doch keine Ahnung!", rief mir einer zu. Und ich sagte: "Doch, ich weiß, wovon ich rede." Nachdem ich meine Geschichte erzählt hatte, kam einer zu mir und sagte: "Das war unsere Bombe."

STANDARD: Gemeint war die IRA. Hat Sie das beeinflusst?

O'Loan: Ich hoffe nicht. Ich bin von katholischen Nonnen erzogen worden und als Pazifistin aufgewachsen. Dass ich den Anschlag überlebte, hat mich in dem Glauben bestärkt: Wir wissen nicht, was morgen kommt. Deshalb sollten wir jeden Tag so gut leben, wie wir können. (Sebastian Borger aus London, 2.5.2021)