Wien und Niederösterreich erwachen am Montag aus ihrer freiwillig verlängerten "Osterruhe", rund zwei Wochen später, am 19. Mai, ist es dann so weit: Österreich macht auf, also fast alles, so der Plan. Zeitgleich mit dem Ostlockdown endete am Sonntag auch die Europäische Impfwoche 2021 unter dem Motto "Vorbeugen. Schützen. Impfen".

Zeit für ein Gespräch mit dem Infektiologen und Impfexperten Marton Széll, der im Vorjahr in die Corona-Kommission und das Nationale Impfgremium des Sozialministeriums berufen wurde, als stellvertretender Leiter der Notfallambulanz der Klinik Donaustadt (vormals Donauspital), wo pro Tag bis zu 20 Corona-Verdachtsfälle per PCR-Test akut getestet werden, der aber auch weiß, was es heißt, Betten für "Covids", die womöglich einmal Intensivpatienten werden, zu suchen.

Er warnt vor folgenschweren Impflücken. Zurzeit dominiert bei der Covid-Impfung zwar noch der Mangel an Impfstoff, doch schon bald könnte es mehr Impfstoff als Impfwillige geben – mit gravierenden Folgen für die Pandemiebekämpfung, erklärt Széll: "Es genügt schon, wenn man irgendwelche Communitys nicht erreicht, dann geht das Problem dort weiter." Letztlich müssten, "wenn man eine echte Herdenimmunität erreichen will, in allen gesellschaftlichen Gruppen 70 oder 80 Prozent Geimpfte beziehungsweise durch Krankheit Immune erreicht werden".

"A SYRINGE AS IF IT WERE THE ROD OF ASCLEPIUS" heißt dieses gestrickte Kunstwerk der Medizinhistorikerin und Sozialanthropologin Katharina Sabernig. Es stellt die Impfung gegen Covid-19 dar, umschlungen von einer Natter, die sich traditionell um den Stab von Asklepios, dem antiken Gott der Heilkunst, windet. Wenn Sabernig nicht anatomische Strickstudien betreibt, forscht sie an der Med-Uni Wien und am Institut für Sozialanthropologie der Akademie der Wissenschaften. Mehr auf www.knitted-anatomy.at.
Foto: Katharina Sabernig

STANDARD: Die Regierung plant Mitte Mai weitgehende Öffnungen, obwohl wir noch immer vergleichsweise hohe Infektionszahlen und beim Impfen ziemlich Aufholbedarf haben. Eine riskante, aus infektiologischer Sicht eine zu riskante Wette, diese Öffnungswelle?

Széll: Das Problem einerseits ist, dass man nicht von heute auf morgen sagen kann, wir machen jetzt Hotels, Gewerbe, Gastronomie, Theater und Schulen auf, denn die brauchen alle Vorlaufzeit, ihre Infrastruktur und Logistik hochzufahren. Da kann man nicht so einfach sagen, schauen wir mal, wie die Zahlen werden, und dann sagen wir Woche für Woche, wir machen vielleicht auf oder nicht. Das kann man niemandem zumuten. Prinzipiell finde ich es gut, dass es Ziele gibt, dass wir alle irgendwie in die Zukunft schauen und uns vielleicht auf etwas freuen können, zum Beispiel ein Outdoor-Essen im Restaurant mit Freunden. Die andere Seite ist natürlich, dass es ein gewisses Risiko birgt, dass die Zahlen bis dorthin nicht sinken, vielleicht sogar steigen, oder dass es große Impfstoffausfälle gibt, wie wir sie ja schon hatten, und dass wir dann knapp vor dem Aufsperren sagen müssen, nein, es geht doch nicht. Dieses Risiko gehen wir ein. Sagen wir so: Solange wir die Handbremse noch in der Hand haben, können wir schon versuchen, langsam auf das Ziel zufahren, aber natürlich müssen wir damit rechnen – und die Politik hat das ja auch so kommuniziert –, dass das Ganze noch ein paar Fragezeichen in sich birgt.

STANDARD: Eine Wette anderer Art haben auch viele Menschen laufen, die ihre Impftermine verfallen lassen, wenn sie sehen, es gibt an dem Tag den Impfstoff von Astra Zeneca. Laut dem aktuellen Österreich-Trend von Peter Hajek für APA und ATV würden fast drei von vier Österreicherinnen und Österreichern (73 Prozent) eine Impfung mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff verweigern. Diese Menschen warten dann lieber und hoffen, dass beim nächsten Termin die Kugel auf Biontech/Pfizer fällt. Welche Folgen hat so ein Verhalten über die individuelle Impfverschleppung hinaus mit Blick auf die Gesamtgesellschaft?

Széll: Es muss letztlich jeder selber entscheiden, ob er sich impfen lässt. Das ist auch gut so. Es gibt keinen Impfzwang in Österreich. Jeder muss selber entscheiden, sollte dafür aber ein Maximum an Informationen haben. Da sind nicht nur Ärzte, sondern auch Politiker und Medien gefragt.

STANDARD: Welche Kriterien soll die betroffene Person dabei anlegen?

Széll: Das ist sehr schwierig auf individueller Ebene zu sagen. Wenn zum Beispiel die Fallzahlen deutlich steigen, wäre es eventuell ein Fehler, einen Impfstoff, den man aus welchen Gründen auch immer nicht möchte, nicht zu nehmen, weil man bei der nächsten Chance einen Monat später vielleicht schon infiziert ist. Wenn die Fallzahlen hingegen deutlich sinken, ist die Chance, in der Zwischenzeit zu erkranken, natürlich deutlich geringer. Darum wird es sehr spannend, wie das in den nächsten Wochen weitergeht. Aktuell gibt es noch die Priorisierungslisten, das ist auch gut so, aber in den nächsten Wochen wird der Punkt kommen, wo man sagt, es macht jetzt keinen Sinn, weiter zu priorisieren, weil die Risikobevölkerung schon zu 80 Prozent oder mehr geimpft ist, und wir können das Impfprogramm endlich öffnen, und alle können sich impfen lassen.

STANDARD: Niederösterreich ist am Freitag bereits vorgeprescht und öffnet ab 10. Mai für alle über 16 die Impfanmeldung. Die anderen Länder sind noch skeptisch und wollen einstweilen weiter nach absteigendem Alter impfen. Wien will Berufsgruppen vorreihen. Ist schon die Zeit, die Impfreihenfolge jetzt aufzuheben?

Infektiologe Marton Széll warnt vor pandemischen "Funken".
Foto: Georg Ivan

Széll: Das wird sicher kommen, nur momentan ist der Zeitpunkt noch nicht da, weil zu viele der älteren Generation noch nicht geimpft sind. Meine persönliche Schätzung ist, dass wir in der zweiten Maihälfte bei der Hochrisikogruppe einen Plafond bei 80 oder 90 Prozent erreichen werden, wo man also wahrscheinlich keine weiteren Leute aus dieser Gruppe zum Impfen motivieren kann, dann wird man die Priorisierungsreihenfolge aufheben. Da den richtigen Moment zu finden, wird eh ein bisschen kritisch und vermutlich auch nach Bundesländern unterschiedlich. Ich tippe auf die zweite Maihälfte, vielleicht erste Juniwoche.

STANDARD: Astra Zeneca ist ja ein bisschen das Sorgenkind der Impfstoffe. Ist es nach all den Zwischenfällen nicht auch verständlich, dass Menschen sagen: Ich möchte bitte den Impfstoff, der bis jetzt das wenigste Getöse verursacht hat, also von Biontech/Pfizer, das Vakzin, das zudem auch am besten gerüstet scheint für Mutationen? Ist das nicht ein zutiefst rationales Verhalten?

Széll: Auf der emotionalen Ebene verstehe ich das sehr gut. Dieser Impfstoff hat sehr viel schlechte Presse bekommen, teils auch selbstverschuldet.

STANDARD: Ist der Impfstoff gut?

Széll: Natürlich. In Europa sind vier Impfstoffe zugelassen, und alle schützen vor schwerer Erkrankung und Tod sehr gut, auch bei der britischen Variante. Das heißt, auf der individuellen Ebene ist der Astra-Zeneca-Impfstoff wesentlich besser, als nicht zu impfen. Das muss man sagen. Wenn wir nur Astra Zeneca hätten, gäbe es wahrscheinlich viel weniger Diskussionen.

STANDARD: Es gibt allerdings auch viele Menschen, die sagen, ich würde Astra Zeneca sofort nehmen. Was spricht dagegen, zu sagen, okay, wer Astra Zeneca will, kommt schneller dran, und die anderen müssen sich dann halt ganz hinten anstellen und warten, bis ihr Wunschimpfstoff kommt?

Széll: Das wird in vielen Ländern auch überlegt, ist nur organisatorisch sehr schwierig. Außerdem haben wir, wie gesagt, das Problem, dass wir momentan noch Impflücken in der Hochrisikogruppe haben, und je mehr man nach unten hin öffnet, desto mehr fällt der Druck weg, die wirkliche Hochrisikopopulation zu impfen, weil dann natürlich sehr viele Junge kommen würden. Das ist der Hintergedanke, warum man versucht, in den nächsten Wochen noch möglichst viele der über 60-Jährigen und die mit schweren Risikofaktoren zu impfen. Außerdem ist es prinzipiell problematisch, einem Impfstoff einen Sonderstatus zu geben. Aber es ist ja jetzt schon so, dass man, wenn Impfstoff übrig bleibt, je nach Impfstraße und Bundesland ohnehin schon toleranter ist als früher, als man sich wesentlich strenger an die Priorisierungsliste gehalten hat. Heute ist es wahrscheinlich kein großes Problem, wenn am Freitag um 18 Uhr Impfstoff übrig ist, von welcher Marke auch immer, dann ruft man halt fünf Leute an und die kommen und lassen sich impfen, bevor er verfällt.

STANDARD: Wir sehen bei den Infektionszahlen, dass sich – nicht zuletzt aufgrund der Impfungen in den älteren Gruppen – das Infektionsgeschehen zu den Jüngeren, die allerdings auch viel mehr getestet werden, nämlich schon jetzt zwischen zwei- und dreimal pro Woche, verlagert. Wie reagieren? Sollten wir vielleicht auch Schülerinnen und Schülern über 16, die ja wieder in den Präsenzunterricht geschickt werden, vorziehen bei der Impfung?

Széll: Ich glaube, es wird jeder über 16 in den nächsten Wochen, sagen wir bis Ende Juni, die Möglichkeit haben, sich impfen zu lassen. Es kann jedoch sein, dass sich die Normalbevölkerung zwischen 20 und 40 gar nicht so gern impfen lässt, weil sie meinen, kein Risiko zu haben. Generell wäre es sehr sinnvoll, Schüler vorzuziehen. In den USA läuft bereits ein Zulassungsverfahren für Impfstoffe für 12- bis 18-Jährige, es ist also damit zu rechnen, dass Schulkinder dort in den nächsten Monaten bereits geimpft werden. Mit etwas Glück könnte es sich in Europa bis zum Herbst ausgehen. Das wäre ein Riesenvorteil für alle. Natürlich sollten auch jüngere Kinder geimpft werden. Da sind die Voraussagen so, dass dies erst im Herbst/Winter möglich sein wird. Es könnte sein, dass die mRNA-Impfstoffe zu reaktogen sind für kleinere Kinder, und möglicherweise andere Vakzine, etwa von Valneva, einem französisch-österreichischen Konzern, eine Chance hätten, sich in dieser Altersklasse zu etablieren.

STANDARD: Die unabhängigen Lehrergewerkschafter kritisieren die Rückkehr in die Schulen als "geplante Durchseuchung der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern". Ihre Meinung dazu?

Széll: Natürlich haben Kinder im Schnitt einen wesentlich leichteren Verlauf als Erwachsene. Nichtsdestotrotz, wenn wir die Kinder, ich mag das Wort nicht, "durchseuchen" lassen auf natürliche Weise, wird das selbstverständlich zu einem Anstieg diverser Komplikationen (Long Covid oder immunologische Reaktionen wie MIS-C) kommen, und leider würden einige auch im Spital landen. Ich sehe bei Kindern aber auch ein zweites Problem, nämlich die Herdenimmunität.

STANDARD: In welcher Form?

Széll: Angenommen, die über 18-Jährigen haben eine Herdenimmunität, es sind also 70, 80 oder 90 Prozent geimpft oder immun durch die Krankheit, und wir machen alles auf, dann wird sich nachher die Epidemiologie großteils unter den unter 18-Jährigen abspielen. Dann fliegen "Funken" hinauf, das heißt, die Oma oder der Opa über 80, die zwar geimpft, aber vielleicht Non-Responder sind, also keine oder nicht genug Antikörper gebildet haben, oder nicht geimpft werden konnten, können sich infizieren, wenn die Enkel infektiös sind. Das heißt, es kommt letztlich auch zu einem Kollateralschaden bei Älteren, wenn man bei Kindern hohe Inzidenzen zulässt.

STANDARD: Was lässt sich daraus folgern?

Széll: Dass hohe Inzidenzen, egal in welcher Gruppe, generell nicht gut sind. Letztlich müssen, wenn man eine echte Herdenimmunität erreichen will, in allen gesellschaftlichen Gruppen 70 oder 80 Prozent Geimpfte bzw. durch Krankheit Immune erreicht werden. Es genügt schon, wenn man irgendwelche Communitys nicht erreicht, dann geht das Problem dort weiter. Das sieht man bei Masern sehr gut. Da bräuchten wir eine Herdenimmunität von 95 Prozent, die wir in Österreich fast erreicht haben. Trotzdem gibt es immer wieder Ausbrüche, weil es zum Beispiel gewisse Schulen gibt, in die besonders viele Impfgegner ihre Kinder hinschicken, und dort kommt es dann plötzlich zu dutzenden Fällen. Das heißt, Herdenimmunität funktioniert nur dann, wenn der Schutz gleichmäßig in der Bevölkerung verbreitet ist.

STANDARD: Tun wir vor diesem Hintergrund genug, um mit den geltenden Maßnahmen insgesamt niedrige Inzidenzen zu erreichen? Ich sehe in Wien auf der Straße kaum noch Masken ...

Széll: Das ist das Problem. Ich habe ein bisschen Bauchweh mit der Situation. Wenn man es genau nimmt, kann man bei jeder Öffnungsmaßnahme immer argumentieren, dass sie funktionieren könnte. Klassisches Beispiel Skifahren. Eigentlich spricht überhaupt nichts dagegen, weil man sich auf der Piste nicht ansteckt, nur, das Problem ist das Drumherum. Die Leute fahren zu fünft im Auto zum Skigebiet, und am Abend setzen sie sich halt doch noch irgendwo indoor zusammen und trinken etwas – und dort steckt man sich dann an. Oder nehmen wir einen Baumarkt: Natürlich steckt man sich nicht an, wenn man sich ein Regal holt, aber die Mitarbeiter machen halt auch gemeinsam Pause und stecken sich gegenseitig an. Das heißt, wenn jetzt alle wirklich sehr, sehr vernünftig wären und wüssten, wie und wo man sich ansteckt, dann bräuchte man eigentlich überhaupt keine Maßnahmen. Die Maßnahmen sind die eine Seite, die Compliance der Bevölkerung, also die Beachtung der Regeln, die andere. Wenn man sich die letzten Wochen nach Bundesländern anschaut, dann sieht man doch recht deutlich, dass die drei östlichen Bundesländer einen recht deutlichen Abfall bei den Inzidenzen haben, während die westlichen stagnieren oder sogar ansteigen.

STANDARD: Das heißt, Lockdown funktioniert, Öffnung ist riskant?

Széll: Wenn man es stark vereinfacht sagen will, ja. Ich habe schon mit dem Begriff Lockdown ein Riesenproblem. Was ist die Definition davon? Es gibt keine international gültige Definition.

STANDARD: Viele andere Länder würden das, was wir hatten, vermutlich eher unter "verschärfte Maßnahmen", aber nicht als harten Lockdown verbuchen ...

Széll: Theoretisch hatten wir bis Sonntag in Wien, so wie in Niederösterreich auch, eine Ausgangssperre, auch tagsüber, wenn mich nicht alles täuscht ... (lacht)

STANDARD: Merkt man aber nicht ...

Széll: Auf dem Papier haben wir schon einen relativ strengen Lockdown, nur wird er halt nicht so gelebt. Die Maßnahmen werden nicht ernst genug genommen.

STANDARD: Sie haben angedeutet, dass in absehbarer Zeit nicht mehr der Impfstoffmangel ein Problem sein, sondern der Mangel an Impfwilligen sein. In den USA geht man mit dem Thema Impfen sehr pragmatisch um. Nicht nur, dass sich die Leute ganz unkompliziert beim Shoppen impfen lassen können, es gibt auch Impf-Goodies wie Gratis-Burger für Geimpfte. Was halten Sie von diesen Ideen, um Menschen zur Impfung zu bewegen?

Széll: Sehr viel. Incentives machen sicherlich Sinn. Bei uns im Krankenhaus hat die Pflegeleitung in der Notfallambulanz eingeführt, dass Mitarbeiter, die sich gegen die Grippe impfen lassen, ein sehr schönes Pflaster mit Comics drauf bekommen und sich eine kleine Süßigkeit aussuchen dürfen. Das führt dazu, dass man darüber redet, das Pflaster herzeigt und einen leichten Druck ausübt auf die, die nicht wissen, ob sie sich impfen lassen sollen oder nicht. Der Grüne Pass ist ja auch so ein Incentive, ein Ansporn, sich impfen zu lassen. Die Leute haben dadurch einen Vorteil. Sie können möglicherweise im Sommer nach Kroatien auf Urlaub fahren oder in Konzerte oder vielleicht auch in Clubs gehen. Das heißt, es macht schon Sinn, sich jetzt impfen zu lassen, weil man dann einen unbeschwerteren Sommer haben wird. Und es ist natürlich sinnvoll, den Impfstoff möglichst niederschwellig anzubieten, dass er mehr oder weniger zum Kunden kommt und nicht umgekehrt. Die Diskussion gibt es ja schon seit Jahren, dass zum Beispiel auch Apotheker impfen dürfen sollen.

STANDARD: Wären Sie dafür? Die Ärztekammer ist mit der Apothekerkammer im Clinch und will das nicht.

Széll: Das ist vor allem eine standespolitische Frage. Ich persönlich glaube schon, dass Impfungen, die seit vielen vielen Jahren erprobt sind, wo man eigentlich gar nicht viel diskutieren oder aufklären muss, Influenza oder FSME als Beispiele, in Apotheken erfolgen könnten. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob sich die Corona-Impfung dafür eignet, weil die Kunden dazu sehr sehr viel Fragen haben, und letztlich auch eine gewisse Haftungsproblematik entsteht, wenn man falsch aufklärt. Ob die Apotheker das kurzfristig so eingehen wollen, bin ich nicht sicher. Die nächsten zwei Monate sind beim Impfen entscheidend. Dann sind wir großteils durch mit den Erwachsenen, die haben ein Impfstoffangebot, das sie hoffentlich angenommen haben, und dann wird sich die Frage, ob jetzt auch Apotheker impfen dürfen, nicht mehr so drängend stellen.

STANDARD: Das Gegenmodell zu den Goodies wäre eine Impfpflicht für bestimmte Bevölkerungs- oder Berufsgruppen? In Italien gibt es eine für Ärzte, Pfleger und Apotheker. Bei uns wiederum haben sich zum Beispiel in Salzburg und Oberösterreich nur 50 Prozent der Lehrkräfte impfen lassen, in Oberösterreich auch nur 60 Prozent der Pflegekräfte. In Vorarlberg haben sich nur 37 Prozent der Elementarpädagoginnen für die Impfung angemeldet. Wie soll man damit umgehen?

Széll: Eine Impfpflicht ist in Österreich aus juristischen Gründen nicht wahrscheinlich. Es gibt aber seit Jahren schon eine indirekte Impflicht für gewisse Berufsgruppen, indem der Arbeitgeber sagt, du musst dich gegen Krankheit A, B und C impfen, weil sonst stelle ich dich nicht an. Wenn Sie nicht gegen Masern geimpft sind, werden Sie in der Gesundheitsbranche nirgends einen Job bekommen.

STANDARD: Welchen Status sollen Impfunwillige künftig in einem Arbeitsumfeld, ob Büro, Fabrik oder Schule, bekommen, in dem die große Mehrheit zum eigenen Schutz und dem der anderen geimpft ist?

Széll: Ich bin absolut dagegen, dass Menschen irgendwie gekennzeichnet werden. Es gab Diskussionen in Krankenhäusern, ob die Mitarbeiter, die geimpft sind, die FFP2-Maske nicht mehr tragen müssen, und die nicht Geimpften schon. Mich würde es stören, wenn ich am Gang entlanggehe und gleich sehe, welcher Kollege sich impfen hat lassen und welcher nicht. Das muss letztlich jeder Arbeitgeber im Rahmen der arbeitsrechtlichen Möglichkeiten klären. Aber der psychologische Druck auf Nichtgeimpfte wird sicher groß sein.

STANDARD: Wie viele Geimpfte plus "wild" Immunisierte, die Covid hatten, brauchen wir denn, um Herdenimmunität und damit Schutz für alle, vor allem die, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können?

Széll: Herdenimmunität bedeutet, dass in einer Population so viele Personen geimpft bzw. immun sind, dass sich ein Virus, das neu in diese Gruppe hineinkommt, nicht effektiv ausbreiten kann, weil jeder Infizierte im Schnitt weniger als eine andere Person ansteckt, das heißt, die Reproduktionsziffer bleibt unter 1. Aber, darum habe ich das betont, das gilt nur für neu hereingebrachte Krankheiten. Wir haben jetzt aber eine laufende Konkurrenz zwischen der echten Infektion und den Impfungen und da schiebt sich die Grenze ein bisschen hinauf. Das Infektionsgeschehen bricht also nicht bei 75 Prozent plötzlich ab, sondern es kommt zu einem "Infection-Overshooting", wo es dann auf 80 Prozent hochgeht, bis es zu einer Herdenimmunität kommt. Es ist kaum möglich eine exakte Grenze für eine Herdenimmunität anzugeben, es sind viele Einflussfaktoren zu beachten. Zum Beispiel, was machen wir mit denen, die vor einem Jahr Corona hatten? Die sind jetzt wieder empfänglicher für das Virus. Man muss das also hineinrechnen, so wie die Tatsache, dass die Impfstoffe nicht ganz gleich schützen, und dazu auch die Problematik mit der Virusvarianten. Es gibt also viele unbekannte Parameter, warum man letztlich keine genaue Ziffer angeben kann, ab wann wir eine Herdenimmunität haben und das Problem überstanden ist. Es wird ein gradueller Prozess sein.

STANDARD: Wo stehen wir derzeit?

Széll: Wir merken bereits ein bisschen, dass die Neuinfektionen weniger zunehmen, weil in Österreich immerhin immerhin ca. 30 Prozent der impfbaren Bevölkerung erstgeimpft ist. Da kommen noch einige Prozent dazu, die die Krankheit hatten. Das heißt, wir können wahrscheinlich schon mit deutlich über einem Drittel Immunität in der Bevölkerung rechnen, und dieser Effekt wird in den nächsten Wochen weiter zunehmen. Wahrscheinlich wird es Ende Mai bis Juni wirklich eine deutliche Erleichterung geben. Das heißt, die Reproduktionszahl wird alleine wegen der vielen Impfungen heruntergehen.

STANDARD: Apropos "das Problem ist überstanden": Angenommen, alle Impfbaren wären geimpft – wäre die Sache Corona dann erledigt und wieder "Normalität" hergestellt?

Széll: Es gibt verschiedene Zukunftsszenarien: Die optimistische sagt: Im Jahr 2022 wird das eine relativ harmlose Krankheit werden, für die es eine normale Kinderimpfung und genug Impfstoff geben wird. Dann wird es nur noch wenige Fälle geben, die schwerer erkranken. Das Worstcase-Szenario wäre, dass diese Mutationen und Varianten es immer wieder schaffen, vor der Immunität zu flüchten und wir ständig nachimpfen müssen. Momentan spricht relativ wenig dafür, dass das kommen wird. Der Impfstoff wird aber wahrscheinlich ein-, zweimal adaptiert werden müssen.

STANDARD: Und wann wird die Corona-Pandemie dann wirklich endlich aus und vorbei sein?

Széll: Das kommt nicht nur auf die Maßnahmen, sondern auch auf die aktuelle Inzidenz an. Denken wir an den letzten Sommer, da waren die Zahlen fast bei null, da war es mit relativ geringem Risiko verbunden, mit Leuten ohne Maske zu reden. Ich persönliche rechne damit, dass sich die Lage im Sommer deutlich entspannen wird und hoffe, dass wir bis zum Herbst so viele geimpft haben, dass wir keine Herbstwelle bekommen, aber wir müssen dran bleiben. Es wird weiter ein breites Testangebot geben müssen, damit wir frühzeitig erkennen können wo es Infizierte gibt und wir werden weiterhin ungeimpfte Kontaktpersonen in Quarantäne schicken müssen. Es ist schon noch einiges zu tun, aber mit ein bisschen Glück haben wir Ende Juni, Anfang Juli eine Situation erreicht, wo wir zumindest einen Großteil des Lebens zurückhaben, das wir uns wünschen. (Lisa Nimmervoll, 3.5.2021)