Die Zukunftskonferenz der EU startet in wenigen Tagen zu einem Zeitpunkt, zu dem einige Mängel der europäischen Antwort auf globale Herausforderungen sichtbar werden. So ist die Bekämpfung der Corona-Pandemie mangelhaft, und zwar nicht aufgrund des gemeinsamen europäischen Vorgehens, sondern weil die Reaktion auf die Verbreitung des Virus unter einem "zu wenig an Europa" leidet beziehungsweise gelitten hat. Die Abstimmung mit den Mitgliedsländern dauerte zu lange, und die finanziellen Restriktionen waren zu streng.

Vor allem aber leidet die EU-Antwort daran, dass die EU keine ausreichende, durch europäische Institutionen kontrollier- und bestimmbare Impfstoffproduktion hat. Es bedarf einer ausreichenden industriellen Basis, die in Krisenzeiten auch den Europäern zur Verfügung steht. Selbst bilaterale Kooperationen innerhalb der EU können ein gemeinsames Vorgehen der EU bei lebenswichtigen Produktionen und Produkten insgesamt nicht ersetzen. Widrigenfalls käme es zu innereuropäischen Neid- und Konkurrenzausbrüchen. Auch die Partner der EU brauchen ein Europa, das fähig ist, ihnen zu helfen – aufgrund eigener Ressourcen.

Aktive Industriepolitik

Sich fast ausschließlich auf den Wettbewerb zu konzentrieren und die billigsten Preise anzupeilen, wie das vor allem in der Vergangenheit der Fall war, kann am Ende sehr teuer kommen. Besonders angesichts der aktuellen und prognostizierten Wachstumsschwäche der EU-Staaten, vor allem im Euroraum, ist eine gezielte industrielle Wachstumspolitik notwendig – auch mithilfe des EU-Budgets. Quantitativ werden die Staaten der EU nicht an das chinesische Wachstum herankommen, umso mehr muss sich die EU auf die Förderung der strategisch wichtigsten Wirtschaftssektoren konzentrieren.

Ähnliches wie für den Pharmasektor gilt auch für die Digitalisierung. Allzu viele digitale Konzerne mit ihren Forschungen und Entwicklungen befinden sich in den USA und zunehmend in China. Sicher muss die EU weiterhin den Fragen der Persönlichkeitsrechte und des Konsumentenschutzes ein besonderes Augenmerk schenken, um zu versuchen, den digitalen, kapitalistischen Überwachungsstaat zu verhindern. Europa darf nicht die Regulierungskompetenz und -hoheit bei der Digitalisierung verlieren. Digitalisierung und künstliche Intelligenz müssen allerdings in einer europäischen Industriepolitik einen höheren Stellenwert bekommen, aber immer mit Beachtung der Grund- und Freiheitsrechte. Den europäischen Lebensstil und die entsprechenden Werte und Prinzipien kann die EU aber nur aufrechterhalten – und anderen vermitteln –, wenn sie sich auch technologisch als führend behauptet. Wer technologisch zur Avantgarde gehört, kann auch leichter die Regeln definieren und durchsetzen. Auch diesbezüglich gilt, dass wettbewerbspolitische Maßnahmen in Bezug auf die großen – vor allem US-dominierten – Konzerne nicht genügen. Europa braucht eigene Unternehmungen, die mit europäischem Know-how und europäischen Wertvorstellungen agieren.

Faire Globalisierung

Eine starke und an Innovationen orientierte Wirtschaft ist die Basis, um im Wettbewerb mit den USA, aber vor allem mit China zu bestehen, mit der Fähigkeit, insbesondere in Krisenzeiten wie in Pandemien diese Ressourcen zu mobilisieren. Damit sind auch die Voraussetzungen für eine faire und vernünftige Globalisierung gegeben. Es macht wenig Sinn, eine Strategie der wirtschaftlichen und technologischen Entkoppelung zu fahren. Eine generelle Deglobalisierung würde viele Vorteile gerade auch für die ärmeren Länder zurücknehmen. Aber die internationale Zusammenarbeit und Globalisierung darf nicht einseitig erfolgen, sodass die Europäische Union viel stärker von anderen Ländern abhängig ist als umgekehrt. Im Fall der Impfstoffversorgung war dies der Fall, und das dürfte nicht mehr passieren.

Sicher ist Europa durch neue aufstrebende Mächte – neben den USA – herausgefordert – an erster Stelle durch China. Dem muss sich die EU durch eigene Stärkung und eine kluge industriepolitische Strategie mit Elementen einer verstärkten Autonomie bei kritischen und strategisch wichtigen Produktionen und Produkten stellen. Der Wettbewerb mit anderen globalen Akteuren kann nicht durch Sanktionen gewonnen werden, sondern nur durch eine starke und moderne wirtschaftliche Basis, die eine Attraktivität nach innen und nach außen sichert. Eine wohlüberlegte Weiterführung und Stärkung des europäischen Projekts ist die einzige Chance, sich nicht durch andere abhängen zu lassen.

Regionale und globale Netzwerke knüpfen

Sowohl eine erfolgreiche Nachbarschaftspolitik, eine Heranführung der Länder des westlichen Balkans als auch die globale Entwicklungspolitik insbesondere gegenüber Afrika setzen voraus, dass es die EU ist, die diesen Ländern am meisten und am schnellsten hilft. Sicher kann eine demokratische Union nicht diplomatische Schwerpunkte und Aktionen setzen, die den Interessen der eigenen Bevölkerung entgegenstehen. China und Russland können eine Impfstoffdiplomatie fahren, bevor noch große Teile der eigenen Bevölkerung geimpft werden. Darüber hinaus hat Europa durch sein praktiziertes Bekenntnis zu gemeinsamen Aktionen im Rahmen der Covax-Initiative Schwierigkeiten, den eigenen Beitrag zur Impfstoffversorgung öffentlich klarzustellen. Aber aus den gegenwärtigen Mängeln zu lernen heißt, die Chance wahrzunehmen und die Forschung, Entwicklung und Produktion von Impfstoffen auf allen Kontinenten voranzutreiben. Entscheidend wäre, die eigene Autonomie mit einer globalen Kooperation und Vernetzung im Interesse der ärmeren Länder zu verknüpfen.

Die Berufung auf die Werte und Grundsätze der EU genügt nicht, um die Bevölkerung unserer unmittelbaren Nachbarn und darüber hinaus vom Nutzen der EU zu überzeugen. Ebenso wenig wie das auf die lange Bank geschobene Beitrittsversprechen für die Länder des westlichen Balkans. Vor allem wenn nationalistische und autoritäre Führer der Region die Propaganda aus Russland und China verstärken. Die Länder des Westbalkans brauchen Schritte der Kooperation und des Involvierens jetzt. Die EU müsste die Integrationsangebote auch schon vor dem formellen Beitritt verstärken und die Politiker der Region stärker in die Verpflichtung nehmen.

Von besonderer Bedeutung ist für die EU die Kooperation mit dem Nachbarkontinent Afrika. Nicht bloß aus postkolonialer Verantwortung, sondern auch aus europäischem Interesse ist die Zusammenarbeit mit diesem jungen und ressourcenreichen Kontinent wichtig. Sie muss dabei auf dem Prinzip der Gleichheit und der Gegenseitigkeit beruhen. Vor allem energie- und klimapolitisch kann eine enge Zusammenarbeit große Vorteile für beide Kontinente bringen. Voraussetzung ist der Abbau ideologischer und politischer Vorurteile vor allem auf europäischer Seite. Aber sicher bedarf es auch moderner demokratischer Strukturen, die vor allem der großen und wachsenden Zahl der jungen Menschen in Afrika eine Chance geben. Die sklerotischen und bürokratischen Strukturen in vielen afrikanischen Ländern stehen dem entgegen.

EU und die Multilateralität

Die globalen Probleme bei der gerechten Versorgung mit Impfstoff sind Ausdruck eines Versagens der so notwendigen internationalen Zusammenarbeit. Ergebnis ist ein extremer Impfnationalismus auf globaler Ebene und eine bilaterale Impfdiplomatie, die aber nicht für eine gerechte Versorgung sorgt. Derzeit sind es vor allem die EU-Staaten, die bereit sind, die Multilateralität zu stärken – auch was das Erreichen einer nachhaltigen CO2-neutralen globalen Wirtschaft betrifft. Die USA verfolgten unter Präsident Trump eine Politik des "America First", die sich sicher unter Präsident Biden abschwächen wird. Vor allem hinsichtlich der Klimapolitik unternimmt Biden wichtige Schritte.

Der neue US-Präsident möchte die Interessen der USA verstärkt in eine Strategie mit den europäischen Verbündeten einbringen. Die EU muss dabei wachsam sein, dass sie nicht zu sehr von Amerikas geopolitischen Interessen abhängig wird. Der Appell an die transatlantischen Beziehungen darf nicht die unterschiedlichen Interessen der USA und Europas verwischen und die Ziele der EU denen der USA unterordnen. China seinerseits spricht viel von Multilateralität, aber nicht nur seine Impfdiplomatie, sondern auch seine Afrikapolitik, sein Auftreten gegenüber seinen Nachbarn am Südchinesischen Meer, aber auch die weitere Verbreitung von Kohlekraftwerken in China und darüber hinaus zeugt nicht wirklich von einer multilateralen Einstellung. Es setzt primär auf bilaterale Beziehungen und nützt seine Stärke gegenüber anderen Staaten entsprechend aus. Ähnlich verhält sich Russland.

Die EU muss eigene Interessen und Bedingungen mit ihren Partnern definieren – vor allem mit den USA.
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Es besteht kein Zweifel, dass sich die EU und die USA historisch, wirtschaftspolitisch, aber auch gesellschaftspolitisch nahestehen. Daraus dürfte die Europäische Union jedoch keine einseitige Abhängigkeit von den USA ableiten und als notwendig anerkennen. Die EU muss eigene Interessen definieren und vertreten. Es liegt im Interesse der Union, auf europäischem Boden Frieden zu bewahren. Dazu gehören Anstrengungen der Abrüstung, die Verhinderung von Grenzverletzungen und gewaltsamen Grenzverschiebungen, aber auch die Bereitschaft zu Dialog und friedlicher Streitbeilegung. Russland verhält sich derzeit in vielen Fragen nicht sehr konstruktiv, aber die EU braucht den Dialog mit Russland, um Konflikte vorerst zu stabilisieren und langfristig zu lösen. Eine vornehmlich auf Konfrontation ausgelegte Politik ist diesbezüglich nicht hilfreich. Das ändert nichts an der Notwendigkeit, an einer klar an Werten und Grundsätzen orientierten Politik, vor allem innerhalb der EU, festzuhalten.

Ähnliches sollte in Bezug auf China festgehalten werden. Chinas wirtschaftlicher Aufstieg ist bewundernswert und kann und soll nicht zurückgedreht werden. Die in jüngster Zeit verstärkte imperiale Haltung Chinas vor allem gegenüber seinen Nachbarn kann weder militärisch noch wirtschaftlich – durch Entkoppelung seitens der westlichen Wirtschaftspartner – bekämpft werden. China muss hingegen noch stärker in multilaterale Strukturen eingebunden werden. Das kann aber nicht durch eine "westliche" Konfrontationspolitik erzwungen, sondern nur durch eine westliche Stärkung der Multilateralität erreicht werden. Da gab es in letzter Zeit bedauerliche Rückschläge. Ob es sich um die WTO oder um die WHO handelt, beide Organisationen sind zuletzt vernachlässigt worden – vor allem durch die USA. Und das gilt auch für andere internationale Organisationen. Dem gilt es seitens der EU entgegenzusteuern. Absprachen mit anderen Ländern von den USA bis zu Indien und Japan, um China zu einem friedlichen und multilateralen Verhalten zu bewegen, sind sicher hilfreich, aber sollten nicht dazu dienen, China zu isolieren.

Eine Politik der Dialogangebote sollte weder hinsichtlich China noch bezüglich Russlands naive Vorstellungen verbreiten. Wachsamkeit ist notwendig und muss jegliche Strategie des Dialogs begleiten. Das gilt auch für die Verteidigung, insbesondere für neue Formen der "Kriegsführung" wie Cyberattacken und hybride Interventionen. Auch diesbezüglich gilt es zu effektiven multilateralen Abkommen zu kommen und dabei dennoch die eigene Stärke weiterzuentwickeln. Die Sicherheitspolitik der EU muss auf sinnvollen Investitionen in gemeinsame Verteidigungsstrukturen – unter Wahrung der nationalen Besonderheiten – und auf Abrüstungsinitiativen beruhen. Multipolare Strukturen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben, können allzu leicht in permanente – auch militärische – Machtkämpfe um die Vormacht münden, vor allem zwischen der bisherigen und der neu aufstrebenden Macht, also zwischen den USA und China. Die EU sollte ihre Möglichkeiten nicht überschätzen, aber die Dialogfähigkeit zu allen Seiten hin offenhalten – unabhängig von den gesellschaftspolitischen Differenzen.

Die EU und die Mitgliedsstaaten

Die Europäische Union ist kein Superstaat und ersetzt nicht die einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber sie setzt eine enge Kooperation der Mitglieder voraus, um effektiv und effizient im Namen aller und für alle handeln zu können. In der letzten Zeit schwächten zwei Tendenzen die Möglichkeiten der EU. Einerseits bewegen sich einige Staaten weg von den gemeinsamen Werten und Grundsätzen, auf denen die EU gegründet wurde und die in Rechtsakten der EU festgeschrieben wurden. Anderseits wird das Versagen der eigenen Politik schnell der EU, insbesondere der EU-Kommission angelastet, auch wenn diese auf Basis von gemeinsamen Beschlüssen handelt. Das war insbesondere auch im Fall der nationalen Maßnahmen gegen die auftretende Pandemie und dann später bei der Impfstoffversorgung der Fall.

Eine Krise wie die aktuelle bringt sicher immer wieder Herausforderungen, die nicht gleich optimal bewältigt werden. Schuldzuweisungen helfen dabei nicht weiter. Wichtig ist, sich auf die gemeinsamen Anstrengungen zu konzentrieren. Und was das Abgehen von EU-Grundsätzen in einigen Mitgliedsländer betrifft, so sollte man die Korrekturaufgabe nicht nur der EU-Kommission und dem EU-Parlament überlassen. Auch die einzelnen Regierungen sollten ein klares Bekenntnis zu den europäischen Grundwerten einfordern, wenn diese offensichtlich verletzt werden. Es darf keinen Freibrief für grundwerteverletzende Regelverstöße geben. (Hannes Swoboda, 7.5.2021)