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Joe Biden beweist, dass Krisen eine Chance für Neues sein können.

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"Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen." Dieses Zitat des großen Schweizer Schriftstellers Max Frisch beschreibt die Situation in den Vereinigten Staaten 100 Tage nach Joe Bidens Amtsantritt. Er übernahm die Führung der Weltmacht in einer furchtbaren Lage – mit einer Krise der Demokratie, des Gesundheitssystems und verschärfter Rassendiskriminierung.

Seit der ersten Präsidentschaft Franklin Roosevelts 1933 werden die Aktionen einer neuen Regierung mit seinen bahnbrechenden Leistungen in den ersten 100 Tagen meistens zuungunsten der Nachfolger verglichen. Wer hätte es gedacht, dass der 78-jährige Politiker der Demokratischen Partei mit einem überraschend glänzenden Start sogar Erinnerungen an Roosevelts New Deal wachrufen würde? Nach fast einem halben Jahrhundert in der Politik beweist Präsident Biden im Sinne des Aphorismus von Frisch, dass Krisen nicht in Katastrophen enden müssen, sondern auch Chancen bieten können.

In Richtung Sozialdemokratie

Entschlossen und planvoll setzt Biden ein unglaublich ehrgeiziges 1,8-Billionen-Dollar-Sozialprogramm um, das deutsche Beobachter als "eine großangelegte Sozialdemokratisierung" bezeichnet haben. Kindergeld, bezahlte Elternzeit, Lohnfortzahlung für kranke Arbeitnehmer und andere staatliche Sozialmaßnahmen sollen eigentlich nachholen, was in anderen entwickelten Industrieländern längst Standard sind.

Rechnet man die Ausgaben für das Corona-Konjunkturprogramm, das Infrastrukturprogramm (Erneuerung der Wasserleitungen, des Strom-, Straßen- und Bahnnetzes) und den sozialpolitischen "amerikanischen Familienplan" zusammen, bekommen wir einen Gesamtbetrag von sechs Billionen (also 6000 Milliarden) Dollar für einen Zeitraum von zehn Jahren. Allein das bereits beschlossene Corona-Konjunkturprogramm bedeutet heuer ein Budgetdefizit, das laut den Berechnungen des Kongress-Budgetbüros 10,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (proportional zweimal so viel wie zur Zeit Roosevelts!) beträgt.

Geringer Spielraum des Präsidenten

Weite Teile der Infrastruktur- und Sozialreformprogramme sollen über Erhöhungen der den Reichen auferlegten Einkommen- und Kapitalsteuern finanziert werden. Die Reformpläne haben natürlich scharfe Proteste der Investoren und der republikanischen Politiker ausgelöst. Angesichts der knappen Mehrheit im Kongress zeigt bereits die Ablehnung der Erhöhung der Kapitalertragsteuer durch einige Demokraten im Kongress, wie klein der Spielraum des Präsidenten für die Realisierung seines so ehrgeizigen Vorhabens ist.

Jedenfalls konnte Biden auf seine Erfolge bei der Bekämpfung der Pandemie in seiner Rede im Kongress hinweisen. Bei seinem Amtsantritt hatte er gesagt, in seinen ersten 100 Tagen sollten 100 Millionen Impfdosen verabreicht werden. Jetzt verkündete Biden, dass bereits 220 Millionen Dosen verabreicht und 70 Prozent der Senioren voll geimpft wurden.

Dass 40 Prozent der Republikaner Umfragen zufolge eine Impfung ablehnen, spiegelt die tiefgreifende Spaltung des Landes. Aber Biden hat wenig Zeit für die angestrebte Heilung und für Kompromisse. Er könnte bereits bei den Zwischenwahlen im Herbst 2022 seine fragile Mehrheit im Kongress verlieren. (Paul Lendvai, 3.5.2021)