Er spielt auf Demos und grünen Parteitagen: der deutsch-russische Pianist Igor Levit.

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Ja, ich kann alle 32 Beethoven-Sonaten spielen. Ja, ich kann parallel noch sechs andere Programme machen. Ja, ich kann mich parallel auch noch mit Nazis kloppen." Und warum? "Ich kann es, weil ich es will. Es ist mein Leben." Na, das ist doch mal eine Ansage.

Igor Levit macht die Ansage im Buch mit dem Titel Hauskonzert, das dieser Tage bei Hanser erschienen ist. Florian Zinnecker hat den Pianisten ein Jahr in freundschaftlicher Weise begleitet, im Fernsehstudio, bei Aufnahmen, bei Konzerten. Und beim Grübeln, beim Verzweifeln, aber auch in Phasen der Euphorie. Der Zeit-Journalist hat zudem mit Levits Freunden gesprochen, mit seinem Umfeld und mit seiner Mutter. Also: Wer ist Igor Levit, wie war sein Leben? Und wie tickt er so?

Musik und gesellschaftspolitisches Engagement

Er ist jedenfalls nicht leicht zu fassen, nicht einmal für sich selbst. Er habe "allein in den letzten fünf Jahren 33 Metamorphosen hingelegt", meint Levit. Die zwei Kernthemen seines Lebens sind bei aller Verwandlungsfreude die gleichen geblieben: die Musik und das gesellschaftspolitische Engagement.

Tim Bendzkos Songtitel Muss nur noch kurz die Welt retten kommt einem in den Sinn, wenn man an Levits Aktivität auf letzterem Gebiet denkt: Er engagiert sich für die deutschen Grünen, für Flüchtende, für Fridays for Future, für Künstler, die vom Lockdown betroffen sind, gegen Antisemitismus und gegen die AfD. Ein Leben im Elfenbeinturm? Das ist nichts, was den 34-Jährigen locken könnte. "Ich glaube, dass jeder, der die Welt aufsaugt, nur gewinnen kann", erklärte er 2019 dem STANDARD.

Aus Levits Reibung mit dem Weltgeschehen entstehen Funken, und Teile dieses Funkenflugs sind auf Twitter zu verfolgen – zurzeit tun dies über 135.000 Menschen. Twitter war auch das soziale Medium, das Levit gleich zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 nutzte, um a) seinen nach Trost und Tönen dürstenden Fans Gutes zu tun und b) weiter öffentlich Klavier spielen zu können. Die Resonanz war ganz okay: Für seine Hauskonzerte wurde der Samariter am Steinway mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Als "Pennerkind" gehänselt

Das Buch Hauskonzert kann man als eine überlange Reportage rhapsodischer Art klassifizieren, rein inhaltlich ist das Ganze eine klassische Biografie. Aber: Über seine ersten acht Lebensjahre im russischen Gorki erfährt man von Levit nichts – er streitet es sogar ab, daran Erinnerungen zu haben. Immerhin erzählt Mutter Elena einige Wunderkindszenen.

Die Übersiedelung nach Deutschland als "jüdische Kontingentflüchtlinge" ist für die Familie nicht leicht, Levit wird in der Schule als "Pennerkind" beschimpft. Deutsch lernt der Bub fast so schnell wie neue Klavierstücke, an der Hochschule von Hannover genießt Levit bald Hochbegabtenförderung. Als Zuchtmeister und Reibebaum für den vielseitig interessierten Zögling fungiert Pädagogenlegende Karl-Heinz Kämmerling, Levits Günter Bresnik quasi.

Leicht entflammbar

Kämpfe um und mit Künstleragenturen werden ausgefochten; auch schrecken Levits ausgefallene Programmideen und sein Aktivismus große Plattenlabels ab. Von Sony zuerst als "nicht vermarktbar" eingestuft, finden Label-Chef Bogdan Roščić und der eigensinnige Künstler 2012 zusammen. Auch interessant: die Einblicke in Levits Musikwerkstatt. "Eine Interpretation – was ist das?", fragt der Wandelbare und stellt klar: "Ich spiele Musik so intuitiv, wie ich kann."

Auf knapp 300 Seiten zeichnet Florian Zinnecker das Porträt des Künstlers als junger Mann und zeigt dabei einen leicht entflammbaren, (von sich selbst) getriebenen, oft auch einsamen und jedenfalls glühend engagierten Menschen. Dieses Engagement sollte, so schließt der Autor, eigentlich keine erwähnenswerte Ausnahme, sondern für alle eine Selbstverständlichkeit sein. Eine Feststellung, für die auch Zinnecker Applaus verdient hätte. (Stefan Ender, 4.5.2021)