Der US-Wissenschaftshistoriker Gerald Holton (98) erhält den BBVA Foundation Frontiers of Knowledge Award 2021 in der Kategorie Geisteswissenschaften. Der in Wien aufgewachsene, von den Nazis vertriebene Forscher bekommt den mit 400.000 Euro dotierten Preis für "bahnbrechende Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen er besondere Sensibilität für kulturelle, philosophische, soziologische und geschlechtsspezifische Zusammenhänge gezeigt hat".

Holton, Professor für Physik und Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University (USA), habe "eine fundierte Analyse des komplexen Phänomens der Wissenschaftsfeindlichkeit und ihrer Rolle im Totalitarismus" entwickelt, heißt es seitens der preisvergebenden Stiftung der spanischen Bank BBVA, die die Auszeichnung in acht Kategorien vergibt. Der Historiker wird auch für "seine innovativen Beiträge zur wissenschaftlichen Bildung, seine entscheidende Rolle bei der Bewahrung von Albert Einsteins dokumentarischem Nachlass und seine Studien über das Schicksal von Kindern, die aus Nazi-Deutschland fliehen mussten", geehrt.

Gerald Holton bei einem Interview mit dem STANDARD im Jahr 2015.
Foto: Peter Illetschko

Wie Wissenschaft die Kultur einer Gesellschaft prägt

Das die Preisträger auswählende Komitee würdigt Holton als "herausragende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Erforschung der Frage, wie die Wissenschaft die Kultur einer Gesellschaft prägt". Er habe in seiner Arbeit versucht zu zeigen, "wie die Wissenschaft von ihrem Hintergrund durchdrungen ist, anstatt sie so zu behandeln, als ob sie ganz allein vom Himmel gefallen wäre", wird der Historiker in einer Aussendung der Stiftung zitiert.

Holton wurde am 23. Mai 1922 in Berlin geboren. Zunehmender Antisemitismus und Nationalsozialismus zwangen seine Familie nach Wien zu ziehen, wo er den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte. 1938 musste er 16-jährig mit einem "Kindertransport" erneut fliehen, zunächst nach Großbritannien und zwei Jahre später in die USA, wo er eine neue Heimat fand und eine bemerkenswerte akademische Karriere machte.

Er studierte Physik und wurde 1947 an der Harvard University promoviert. 1952 bekam Holton die Leitung seines eigenen Labors für Hochdruckphysik, entdeckte aber bald seine Leidenschaft für die Wissenschaftsgeschichte. Diese "nährte seine Überzeugung, dass die wissenschaftliche Kultur eine der tragenden Säulen der Gesellschaft ist", heißt es seitens der BBVA Stiftung. Und wie Holton selbst sagte: "Wissenschaft ist Teil einer Tapisserie, sie ist in eine Kultur eingewoben." Aus diesem Grund setzte er sich schon früh dafür ein, Wissenschaft und wissenschaftliches Denken der Bevölkerung zu vermitteln.

Gegen die Verherrlichung der Irrationalität

Holton war der erste, der Albert Einsteins Schriften und Korrespondenz nach dessen Tod 1955 archivierte und der wissenschaftlichen Gemeinschaft zugänglich machte. Das Preis-Komitee würdigt auch Holtons Warnungen vor wissenschaftsfeindlichen Bewegungen und den vielfältigen Gefahren, die damit verbunden sind. Holton, der den Aufstieg der Nazi-Barbarei in einer scheinbar zivilisierten Gesellschaft mit eigenen Augen miterlebt habe, habe gezeigt, dass "die Verherrlichung der Irrationalität in Kombination mit Populismus und Nationalismus eine Gleichung ist, deren Ergebnis nur allzu leicht zu totalitären Bewegungen und Regimen führt".

Holton, der zahlreiche Ehrungen erhalten hat und 2016 Ehrenmitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wurde, widmete sich noch im fortgeschrittenen Alter u.a. Studien über die Benachteiligung von Frauen im Wissenschaftsbetrieb oder über die Lebensgeschichten von Kindern, die vor den Nazis in die USA geflüchtet waren. So präsentierte er 2003 bei einem Symposium in Wien, das auf Wunsch des aus Wien stammenden US-Neurobiologen Eric Kandel anlässlich der Verleihung des Medizin-Nobelpreises 2000 an ihn statt Ehrungen in Österreich veranstaltet wurde, die Ergebnisse einer Studie darüber. Er zeigte darin, dass viele einen hohen Bildungsstand erreichten und Karriere in den USA machten – dies allerdings zum hohen Preis einer verlorenen Kindheit und posttraumatischer Belastungsstörungen. (APA, 3.5.2021)