Wien – Seit drei Stunden steht Frau Sarbgit vor ihrem kleinen Kleiderstand auf dem Brunnenmarkt und wartet vergeblich auf Kunden. Fünf Euro kosten die meisten ihrer bunten Leiberln und Röcke. Für wenig mehr als 30 Euro gibt es bei ihr in Wien-Ottakring eine neue Garderobe. Fein säuberlich Falte auf Falte hat sie diese auf den alten Holzbrettern geschlichtet. "Aber viele Leute trauen sich nicht einmal mehr, mein Gewand anzugreifen." Es fehle aufgrund hoher Arbeitslosigkeit rundum an Geld, seufzt sie und blickt den vorbeieilenden Menschen nach, die ihre Ware nur flüchtig mustern.

Lange Menschenschlangen haben nach dem Lockdown vor einzelnen Diskontern Tradition. Der große Ansturm auf die Geschäfte blieb am Montag in Wien aus.
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Der Handel unter freiem Himmel bietet Frau Sarbgit seit 25 Jahren einen bescheidenen Lebensunterhalt. Unterbrochen hat sie ihr winziges Geschäft nur aufgrund der Pandemie. Nun fürchtet sie, es ganz aufgeben zu müssen. "Ich kann ja nicht noch billiger werden. Doch wer wird mir in meinem Alter eine neue Arbeit geben? Schon so viele Junge hier sind seit der Krise ohne Job."

Spaziergeher freuen sich

Vier Lockdowns hat der Wiener Handel innerhalb eines Jahres absolviert. Nach wochenlangem Stillstand war es am Montag wieder einmal so weit: Mit gehörigem Abstand und Maske durfte auch in Ostösterreich abseits der reinen Grundversorgung eingekauft werden. Doch zu oft ist der Handel schon halbherzig wiederauferstanden, als dass die Wiener deswegen noch groß in Euphorie verfallen würden.

"Man hat sich an alles schon gewöhnt. Das Spazierengehen ist jetzt halt wieder ein bisserl lustiger", sinniert ein betagtes Ehepaar außerhalb des Gürtels in der Neulerchenfelder Straße. Sich etwas Neues zu kaufen sei nicht nötig. "Wir haben, um uns sicher zu sein, den Kleiderkasten daheim auseinandergenommen. Jetzt sieht es bei uns aus wie in einem Adler-Modemarkt."

Gesungen, getanzt, gelacht

Zum Feiern sei ihnen erst wieder zumute, wenn in ein paar Wochen die Schanigärten öffnen. Wobei es ja an Leben rund um den Yppenplatz, an dem sie wohnen, auch in den vergangenen Wochen trotz der rigiden Ausgangssperren nicht gefehlt habe. "Bis spät abends wurde hier gesungen, getanzt und gelacht, natürlich alles ohne Maske. Aber kann man das den jungen Leuten nach so langer Zeit wirklich verübeln? Verbietet man es im Freien, treffen sie sich zu Hause." Sie selbst würden jedenfalls weder mit Politikern noch mit Virologen tauschen wollen. "Wie man es macht, ist es falsch."

Eine Ecke weiter schlichtet ein Elektrohändler emsig Gerät um Gerät in seine Auslage, die vor Haushaltsware übergeht. Eben hat er einer Kundin einen Staubsauger verkauft und ihr geraten, dessen Inneres zwecks langer Lebenszeit regelmäßig zu reinigen. "Kann der Motor nicht mehr atmen, stirbt er."

Jeder Cent zählt

Nie im Leben kehre der Konsum nach Corona in seine alten Gewohnheiten zurück, ist er sich "nach rund 40 Jahren Erfahrung im Handel" sicher und erzählt von der Angst, Geld auszugeben. "Bevor sich die Leute in Ottakring Kirschen um zwei Euro kaufen, drehen sie die Münze fünfmal um. Auch mir ist es nicht mehr egal, ob ein Packerl Taschentücher 20 Cent mehr oder weniger kostet."

Tiefer Groll und Grant sprudeln aus ihm, erinnert er an Konzerne wie Hofer, Spar und Lidl, die im großen Stil Non-Food-Artikel bewarben, während anderen Einzelhändlern behördlich die Hände gebunden waren. Er sitze hier nun auf 40 Bügeleisen fest, nachdem die Supermärkte diese zuvor leichtfüßig verschleuderten. "Und dann wundert sich die Regierung, wenn kleine Betriebe zusperren. Die Krise macht viele Reichen reicher und die Armen ärmer." Er selbst lebe nunmehr vor allem von seinen finanziellen Reserven und der Unterstützung durch Freunde, zieht der Kleinunternehmer ernüchtert Bilanz. Einmal nur wünsche er sich eine halbe Stunde Redezeit vor dem Parlament. "Ich hätte der Politik so viel zu sagen."

Weniger Gaspistolen und Pfefferspray

Gelassener gibt sich ein Waffenhändler aus der Nachbarschaft. Nur einen Monat hatte er zu, für den ihm der Umsatz zu 30 Prozent vom Staat abgegolten werde. Zuvor war es ihm trotz weitreichender Restriktionen erlaubt, seinem Geschäft nachzugehen. Von sinkender Nachfrage weiß er nichts zu berichten. Allein das Bedürfnis nach Selbstschutz sei nicht mehr so hoch wie beim ersten Lockdown, sagt er. Gaspistolen und Pfeffersprays seien mittlerweile wieder weit weniger gesucht.

Doch ob Juwelier, Gardinen- oder Restpostenhändler – zuversichtlich in die Zukunft blickt in Wiens Randbezirken kaum ein Gewerbetreibender. Auch untereinander gedieh in den vergangenen mageren Monaten die Missgunst, hielten sich schließlich nicht alle an die auferlegten Regeln. So mancher stellte Lebensmitteldosen in seine Auslage und hielt sich damit die Hintertür für anderes offen, selbst wenn er mit der Grundversorgung wenig am Hut hat.

Regelbruch

Auch eine Wiener Friseurmeisterin bezweifelt, dass in ihrer Branche alles seinen rechtmäßigen Lauf nimmt. "Sie glauben doch nicht wirklich, dass jeder meiner Kollegen auf einen gültigen Corona-Test besteht?" Seit den frühen Morgenstunden bedient sie in ihrem Studio in Döbling einen Kunden nach dem anderen. Die Vorstellung, dass nach der Pandemie alles so wird, wie es war, hat sie sich jedoch abgeschminkt.

"Der Pfusch blüht. Man trifft sich daheim zum Friseurerlebnis. Und keiner kontrolliert." So rasch werde sich daran nichts ändern, sagt sie, noch weniger, wenn es derzeit noch kaum echte Anlässe gebe, um sich zu verschönern. "Nur für den eigenen Mann und den Spiegel? Sicher nicht."

Einige Straßenzüge weiter harren Männer auf den Einlass in den Barber-Shop. Wirklich gefehlt habe ihm der akkurate, regelmäßige Schnitt jedoch nicht, gibt einer unter ihnen nach kurzer Nachdenkpause freimütig zu und streicht über den gegelten Haarschopf. Das Einzige, worauf er sich wirklich freue, sei die Wiedereröffnung der Gastronomie. "Dann setze ich mich in mein Café zu einem kleinen Espresso und geh’ dort drei Stunden nicht mehr weg." (Verena Kainrath, 3.5.2021)