Als Wiener hat man ja eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie ein Gulasch zu sein hat. Im Detail kennt man das Rezept zwar nicht unbedingt, aber dass Rindfleisch und Zwiebel und Paprika drin sind, das weiß ja wohl jeder. Und man hat auch ganz klare Ideen dazu, wie sämig die Sauce geraten sollte, wie mürb das Fleisch, wie scharf das Ganze.

Außerdem weiß man, dass ihm Aufwärmen guttut und ein Bier am besten dazu passt. Beim Gulasch macht man uns Wienern eben nix vor, da kennen wir uns aus. Zumal es ja unser zweites Nationalgericht ist – gleich hinter der unangefochtenen Nummer eins, dem gebackenen Schweinsschnitzel.

Blöd nur, dass das Gericht, genau wie sein Name ja aus Ungarn stammen (wie eigentlich auch jeder weiß) und man dort unter einem Gulasch etwas ganz anderes versteht. In Ungarn bezeichnet der Begriff Gulyás, so die originale Schreibweise, nämlich eine Gulaschsuppe; und dort fällt das, was man hierzulande unter dem eingedeutschten Namen kennt, eher unter den Begriff Pörkölt.

Bis in jüngste Zeit kümmerten diese gar nicht unwesentlichen Unterschiede in Namensgebung und Zubereitung allerdings kaum jemanden. Die Ungarn hatten ihr Gulyás und die Wiener eben ihr eigenes – wenngleich vom Original abgeleitetes.

Zumal das Gulasch als kulinarischer Import den Wienern in idealer Weise dazu dient, die angebliche Multikulturalität und den Reichtum der eigenen Küche beispielhaft zu belegen. Einer Küche, die, so der Mythos, einst aus den zahlreichen Einflüssen und Kochstilen eines untergegangenen Vielvölkerreichs entstand.

Gulasch ist nicht gleich Gulyás.

In Teufels Küche

Doch nun könnte sich alles ändern. Schuld daran: der Vorwurf der sogenannten Cultural Appropriation, zu Deutsch der kulturellen Aneignung. Dieser hat nämlich nach den Bereichen Künste, Mode und Frisuren längst auch jenen der Küche erreicht. Jüngstes Beispiel dafür ist eine haitianische Suppe namens "soupe joumou", deren Rezept im US-amerikanischen Magazin Bon Appétit veröffentlicht wurde – allerdings mit starken Abweichungen vom "Original". Was unter einem Teil der Leserschaft, jenem nämlich mit haitianischen Wurzeln, für Proteste sorgte.

Doch was ist das eigentlich, kulturelle Aneignung? Nun, vereinfacht gesagt tritt diese jedes Mal dann ein, wenn Mitglieder einer "Dominanzkultur" sich an den kulturellen Errungenschaften von Minderheiten bedienen, ohne dabei den Wert der jeweiligen Kultur zu respektieren. Etwa indem sie die Frisuren oder Kleidung besagter Minderheit übernehmen, um die Verkaufszahlen ihres eigenen Werks zu steigern. Das hat man etwa Katie Perry vorgeworfen, als sie mit Cornrows auftrat. Oder dem Modelabel Gucci, das Models mit Turbanen über den Laufsteg schickte.

In diesem Sinne erfüllt das Aufgreifen und Abändern der haitianischen Suppe ganz ohne Zweifel den Tatbestand der kulturellen Aneignung.

Sozusagen in Teufels Küche kam auch der britische Superstar Jamie Oliver, einer der Topverdiener der Branche, als er vor zwei Jahren ein Mikrowellengericht mit Namen "Punch Jerk Rice" präsentierte.

Unter dem Begriff Jerk versteht man nämlich in der ehemaligen britischen Kolonie Jamaika eine Marinade, die in ihrem (von mehrheitlich von den Briten verschleppten Afrikanern besiedelten) Ursprungsland ausschließlich Fleisch vorbehalten ist – und zudem ganz anders zubereitet wird als in Olivers Rezept. Wofür der Rockstar unter den Köchen auch umgehend von der jamaikanisch-stämmigen Parlamentsabgeordneten Dawn Butler getadelt und der Cultural Appropriation bezichtigt wurde.

Gewürze

Und "unser" beziehungsweise "deren" Gulasch? Von Aneignung könnte man hier gleichfalls sprechen – insofern als sich eine Dominanzkultur ein Gericht einer unterdrückten Minderheit (und als solche kann man die Ungarn, zumindest bis zum österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, wohl bezeichnen) zu ihrem eigenen machte.

Dazu ist allerdings zu sagen, dass die entscheidendste Zutat aller Gulasche, nämlich der Paprika, aus Mittel- beziehungsweise Südamerika stammt. Und von den dortigen Bevölkerungen lange vor der Ankunft der Europäer angebaut und gegessen wurde.

In der Folge haben sich iberische Seefahrer und Handelsleute das Gewürz "angeeignet" und nach Asien und in die Türkei gebracht. Und da die Türken fast 150 Jahre Teile Ungarns beherrschten, gehen Historiker davon aus, dass sie es waren, die den Chili/Paprika in der Pannonischen Tiefebene einführten.

Dorthin gelangten die Türken übrigens über den Balkan. Von wo offenbar auch der Begriff Paprika stammt, der vom Serbokroatischen "papar" abgeleitet ist, welcher wiederum aufs Lateinische "piper" verweist, was Pfeffer bedeutet. Und dieser wächst ja bekanntlich irgendwo ganz, ganz weit weg.

Verbindend

Das Beispiel belegt vor allem eines, nämlich dass kaum etwas ungeeigneter ist als die Küche, um kulturelle oder gar nationale Identität widerzuspiegeln. Und dass ein Küchenstil, der nicht durch Austausch, Handel, Reise, aber auch Eroberung, Migration und eben Aneignung entstanden ist, kaum denkbar ist.

Genauso wenig wie eine Welt aus einheitlichen und von unüberwindlichen Barrieren umgebenen Kulturkreisen, in denen unverfälschte Gerichte entstehen, deren Reinheit es zu bewahren gelte. Zudem spiegelt Küche den ständigen Wandel der Gesellschaft wider, indem sie sich selbst wandelt – und unter natürlichen Umständen niemals festgefahren in der Zeit stehen bleibt.

Stäbchen eignen sich als Besteck für Punschkrapfen genauso wenig wie eine Fondue-Gabel für Sushi. Dafür visualisieren sie kulinarische Grenzenlosigkeit sehr gut. Die Idee stammt von Hedi Lusser.
Foto: Lukas Friesenbichler

Nun ist freilich klar, dass Essen, deutlicher vermutlich als die meisten anderen Kulturgüter, zwei völlig gegensätzliche Kräfte in sich vereint – nämlich das Trennende einerseits und das Verbindende andererseits. Für das Trennende entscheiden sich jene, die sich durch das, was sie essen oder eben nicht essen, von anderen abzuheben versuchen – in vielen Fällen mit einhergehender Stigmatisierung vermeintlich fremder Essgewohnheiten (Stichworte: Spaghettifresser, Froschfresser, Mostschädel).

Das Verbindende indessen liegt im Teilen der Mahlzeit. Wenn es stimmt, dass man ist, was man isst, wie es so oft heißt, dann werden auch die Speisen des anderen zum Teil von einem selbst, und zwar auch im kulturellen Sinn (und nicht nur im stoffwechselbezogenen). Und so geht es im Konkreten weniger um Cultural Appropriation als viel mehr um Cultural Incorporation. Auch gibt es wohl kaum einen symbolisch integrativeren Akt, als sein Essen dem Gast beziehungsweise dem Fremden anzubieten – abgesehen von jenem, das Essen des Gastes oder Fremden zu teilen.

Weswegen, gerade wenn es um Küche geht, die in diesem Zusammenhang so häufig strapazierten Begriffe wie Originaltreue, Ursprung, Herkunft und Authentizität weitestgehend sinnentleert sind.

Das Fremde verschlingen

Eines von vielen bezeichnenden Beispielen in diesem Zusammenhang ist das vermeintlich indische Gericht Chicken Tikka Masala, das der ehemalige britische Außenminister Robin Cook einst als das britische Nationalgericht bezeichnete. Und das in so gut wie jedem indischen Restaurant der Welt außerhalb Indiens (dort aber auch in zahlreichen) angeboten wird. In Wahrheit handelt es sich um ein Gericht, das die klassische indische Küche nicht kennt. Da es, vermutlich irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, irgendwo im Vereinigten Königreich entstand.

Fondue mit Sushi: kulinarische Freiheit oder kulturelle Aneignung?
Foto: Lukas Friesenbichler

Problematisch wird es vor allem dann, wenn im Zusammenhang mit Küche Begriffe fallen wie Reinheit, Unverfälschtheit oder Heimattreue. Denn in Wahrheit gehören das Gulasch, das Wiener Schnitzel, die böhmischen Mehlspeisen, die bosnischen Ćevapčići, die Sushi, Pizzen, Crêpes, Hamburger, aber auch haitianische Suppen und alle anderen Speisen, die einem einfallen mögen, überhaupt niemanden.

Oder aber all jenen, denen sie schmecken. Man kann es aber auch anders sagen, nämlich frei nach Goethe. Der bescheinigte der Sprache, dass deren Gewalt es nicht sei, das Fremde abzuweisen, sondern es zu verschlingen. Für die Küche mag dasselbe gelten. (Georges Desrues, RONDO, 6.5.2021)