Manchmal sind es die kleinen Gesten, die Berge versetzen. Robert Schauer hat sich etwas Besonderes überlegt für seinen Gast aus dem fernen Texas. Üblicherweise funkelt einem aus dem kleinen Etui ein Diamantring entgegen. Ein Zeichen der Verbundenheit, der Ewigkeit, eine große Geste. Vor der Übergabe hatte Beck Weathers, der Pathologe aus Dallas, Texas, dem Publikum des Mountain-Film-Festivals in Graz veranschaulicht, was er fünf Jahre zuvor verloren hatte: Sein rechter Arm ist unterhalb des Ellbogens amputiert, dort, wo die Finger an der linken Hand sein sollten, sind nun drei kompakte Stummel. Seine Nase besteht aus Porzellan. Die körperlichen Verluste haben sich relativiert. Die Ereignisse auf dem Mount Everest 1996 haben Seaborn Beck Weathers zu einem neuen, ja vielleicht besseren Menschen gemacht. "Er strahlt eine ungemeine Lebensfreude aus", erinnert sich Festivaldirektor Schauer.

Als Weathers das Etui an jenem Abend im Grazer Kongress öffnete, funkelte nichts: kein Gold, kein Diamant, kein Spektakel. Der zwei Zentimeter große Stein könnte so auch an der Mur oder auf dem Schlossberg liegen. "Lieber Beck, du brauchst da nicht mehr raufsteigen", sagte Schauer zu Weathers, als er ihm den Gipfelstein des Mount Everest übergab. Weathers brach in Tränen aus.

Galgenhumor

Das Schicksal brachte die beiden Männer fünf Jahre zuvor, am 12. Mai 1996, unmittelbar zusammen. In diesem Fall ragt das Schicksal 8.848 Meter in den Himmel, liegt zwischen Nepal und Tibet im Bergmassiv Mahalangur Himal, heißt auf Nepali Sagarmatha und auf Tibetisch Qomolangma. Oder: Mount Everest – der höchste Berg der Welt. Als der Grazer Schauer gemeinsam mit seinem Kollegen Ed Viesturs den gezeichneten Weathers unterhalb des Südsattels übernahm, war der Texaner in einem schlechten Zustand. Er konnte nichts mehr sehen, beide Hände waren unbrauchbar, blau und schwarz von Erfrierungen. Bei einer Kletterpartie über einen Abschnitt, der das Gelbe Band genannt wird, mussten sie ihm Schritt für Schritt mit den Steigeisen in die Tritte helfen. Im Schnee ging es dann besser.

Robert Schauer hilft Beck Weathers beim Abstieg.
Foto: Privat

Schauer erinnert sich: "Er war in einem furchtbaren Zustand, konnte aber halbwegs gehen und war ansprechbar. Trotz seiner misslichen Lage hat er immer wieder witzige Sprüche losgelassen." Schauer und Viesturs waren zuvor vom Lager zwei im Eiltempo Richtung Südsattel gestiegen, als bekannt wurde, dass ihre Hilfe weiter oben benötigt wurde. Am 13. Mai wurden Weathers und der ebenfalls in Not geratene Taiwanese Makalu Gau mittels einer riskanten Helikopterbergung – durch die geringe Dichte der Luft verlieren die Verbrennungsmotoren an Leistung, zudem sind die Rotorenblätter optimiert auf einen Luftwiderstand, der nach 4000 bis 5000 Metern Höhe endet – vom Berg gebracht.

Alle rauf

Die Tragödie auf dem Mount Everest 1996 ist eines der bedeutendsten Unglücke in der Geschichte des Höhenbergsteigens. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Dokumentation: Der US-amerikanische Journalist Jon Krakauer war Teil einer kommerziellen Expedition unter der Führung des Neuseeländers Rob Hall. Krakauer wurde vom "Outside Magazine" beauftragt, über die zunehmende Kommerzialisierung auf dem Everest zu berichten – und fand sich in jener Katastrophe wieder, die insgesamt acht Bergsteiger das Leben kosten sollte. Seinem Artikel ließ Krakauer das Buch "In eisige Höhen" folgen, das zum Bestseller wurde. Die Ereignisse waren außerdem Gegenstand des Hollywoodstreifens "Everest" (2015). Krakauer selbst sollte später in einem Interview sagen: "Ich wünschte, ich wäre nie dort gewesen." Auch der russische Bergführer Anatoli Bukrejew arbeitete die Ereignisse in seinem Buch "Der Gipfel" auf – auch weil er mit seiner Darstellung in Krakauers Buch unzufrieden war. Bukrejew kam im Dezember 1997 bei einem Lawinenunglück an der Südwand der Annapurna ums Leben.

Der Khumbu-Eisfall ist eines der anspruchsvollsten Hindernisse auf dem Weg zum Gipfel.
Foto: APA/AFP/Technical Climbing Club

Was war passiert? Am 10. Mai 1996 machten sich mehrere Expeditionen bereit, einen Ansturm auf den Gipfel zum Dach der Welt zu wagen. Im Zentrum der Erzählungen stehen die beiden kommerziellen Expeditionen unter der Leitung von Rob Hall und Scott Fischer. Kommerziell bedeutet, dass Kunden damals zwischen 50.000 und 60.000 Dollar bezahlten, um zum höchsten Punkt der Erde zu gelangen. Der Steirer Schauer war Teil eines Filmteams, das eine Dokumentation auf dem Berg drehte. Schauer ist ein exzellenter Höhenbergsteiger, 1978 war er der erste Österreicher auf dem Gipfel des Everest, seine Erstdurchsteigung der steilen Westwand des Gasherbrum IV im Alpinstil 1985 gilt als Meisterleistung.

Nach Wochen der Akklimatisierung und Vorbereitung sollte der Gipfelsturm am 10. Mai gewagt werden: Unterwegs waren mehrer Expeditionen über den nepalesischen Weg. Auf der Nordseite, die von Tibet zu erreichen ist, machten sich weitere Bergsteiger auf den Weg zum Gipfel. Was folgte, war eine Verkettung von Ereignissen, die schließlich zum Desaster wurden: Stau an engen Passagen, lange Wartezeiten, Wettbewerb, Leichtsinn, Selbstüberschätzung, ein Blizzard.

Der Blizzard

Entscheidend war vor allem, dass viele Bergsteiger den Gipfel erst viel zu spät erreichten. Denn: Das Raufkommen ist nicht so sehr das Problem, sondern der Abstieg. Je später es wird, desto schlechter wird das Licht, desto weniger zusätzlichen Sauerstoff hat man zur Verfügung, desto müder ist man und desto eher kann das Wetter umschwenken. Und genau das passierte: Während viele Bergsteiger noch beim Absteigen waren, fegte ein Blizzard über den Berg und machte ihn zur eisigen Hölle. Der Expeditionsleiter Scott Fischer schaffte es nicht mehr ins rettende Lager vier, ein weiterer Bergführer und ein Teilnehmer verschwanden, eine Gruppe, unter ihnen Beck Weathers, schaffte es auf den ebenen Südsattel in 7.900 Meter Höhe nur unweit vom Lager, aber durch die schlechte Sicht konnten sie die Zelte nicht mehr finden. Nach und nach wurden einige ins Lager gerettet. Die Japanerin Yasuko Namba und Weathers hielt man für tot. Namba war es, Weathers nicht.

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Der Gipfel, aus dem Träume und Albträume gemacht sind.
Foto: dapd/Joshi

Als besonders dramatisch entpuppte sich das Schicksal des Expeditionsleiters Rob Hall. Der 35-Jährige überlebte 24 Stunden allein auf dem Südgipfel, konnte aber durch seine Erfrierungen und die körperliche Schwäche nicht mehr absteigen. Alle Rettungsversuche scheiterten. Man schaffte es aber noch, den Neuseeländer über Funk und Satellitentelefon mit seiner schwangeren Frau zu verbinden. Er verabschiedete sich mit: "Mach dir nicht zu viele Sorgen."

Trias des Todes

Bei der Aufarbeitung von tragischen Ereignissen stellt sich schnell die Frage: Was wäre, wenn? Und: Was hätten Sie getan? Die vermeintliche Nachvollziehbarkeit ist trügerisch: In diesen Höhen gelten andere Gesetze, vor allem für den Körper. Der Berg entzieht die Menschlichkeit, Funktionen, die uns am Leben halten, sind stark eingeschränkt. Peter Paal, Intensivmediziner, Anästhesist und Experte für Höhenmedizin, spricht von einer Trias, die einen umbringt: "Kälte, Sauerstoffmangel und Flüssigkeitsmangel werden zu einer Todesspirale."

Auch das Gehirn funktioniert nicht mehr richtig: "Bei einer Höhenpsychose sind Halluzinationen und fragwürdige Entscheidungen typisch. Man hängt sich zum Beispiel aus dem Fixseil aus und weiß nicht warum. Oder man reißt sich die Ausrüstung vom Leib, weil man ein paradoxes Hitzegefühl entwickelt." Als Regel gilt: so schnell wie möglich rauf und so schnell wie möglich runter. Denn je länger man oben bleibt, desto größer sind die Schäden für den Körper.

Die bekanntesten Gefahren der Höhe für den Körper. AMS (Acute Mountain Sickness), HAPE (Höhenlungenödem), HACE (Höhenhirnödem) und die Höhenpsychose. Im weiterführenden Interview erklärt Peter Paal, warum sich der Mensch in der Höhe so schwer tut.

Der Berg und das Reißbrett

Der Grund für die Anziehungskraft des Mount Everest ist der Superlativ: der höchste Punkt der Erde, das Dach der Welt. Nicht erst seit der Erstbesteigung 1953 durch den Neuseeländer Edmund Hillary und den Nepalesen Tenzing Norgay Sherpa ist der Berg Schauplatz von Geschichten und Mythen, von Tragödien und Meilensteinen. Er erzählt vom Scheitern und vom Erfolg, von Selbstsucht und von Teamgeist, vom Überleben und vom Tod. Und steht dabei seit rund 60 Millionen Jahren einfach nur da. Unvergessen bleibt die Erstbesteigung ohne zusätzlichen Sauerstoff von Reinhold Messner und Peter Habeler 1978.

Mittlerweile ist der Mount Everest aber schon länger eines: ein lukratives Geschäft. In den 1990er-Jahren erkannte man, dass der Mythos des Gipfels nicht nur Abenteuerlust auslösen konnte, sondern vor allem auch Geldbörserln öffnete. Das Geschäft mit dem Berg schob so richtig an: Für rund 60.000 Dollar und mehr konnte man an kommerziellen Expeditionen teilnehmen. Agenturen wie Mountain Madness (Fischer) und Adventure Consultants (Hall) stellen Infrastruktur, Sauerstoff, Sherpas, Know-how und Unterstützung. Rauf muss man auf den eigenen Beinen, mit der eigenen Lunge. Eine Gipfelgarantie gibt es trotz der hohen Summen nicht, die Abhängigkeit von Wetter und Umständen passt auf kein Reißbrett. Und trotzdem: Bis August 2020 haben 5.790 Bergsteiger insgesamt 10.185-mal den Gipfel des Everest bezwungen. 304 Menschen sind gestorben.

Die Gipfelformel

"Der Everest ist eine Formelkletterei. Man kommt an, die Expeditionsagenturen geben ein klares Schema vor und sagen: Du machst A, B, C, und D, und wenn du dich daran hältst, hast du eine gute Chance, den Gipfel zu erreichen und lebend wieder nach Hause zu kommen", sagt Alan Arnette. Der 64-jährige US-Amerikaner ist Everest-Experte und Chronist, er war selbst viermal auf dem Gipfel. Seit der Tragödie 1996 hat sich einiges verändert: Vor allem Ausrüstung und Wettervorhersagen wurden bedeutend besser. Bis 2000 lag die Todesrate bei vier Prozent, mittlerweile ist sie auf 1,2 Prozent gesunken. Der Boom nahm seinen Lauf: Everest-Besteigung statt Therme Loipersdorf.

Everest-Unglücke in Zahlen.

Zwischen 1970 und 1979 sind 562 Bergsteiger auf den Gipfel gekommen, in den 1990ern waren es bereits 2.628 und zwischen 2010 und 2019 3.972. Und: Die Preise für Expeditionen purzelten schneller als eine Lawine. Grund dafür ist auch das Aufkommen von lokalen Expeditionsagenturen. Arnette sagt: "Eine nepalesische Agentur verlangt mittlerweile zwischen 20.000 und 30.000 Dollar für eine Expedition. Sie setzen vor allem auf Quantität – und bezahlen den Sherpas nurmehr einen Bruchteil." Damit zog man auch eine neue Demografie an Gipfelwütigen an. Durch die explodierende Anzahl an Gipfelambitionen hat der Everest auch schon länger ein Müllproblem.

Zensur statt Starbucks

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Stau auf dem Gipfel zum Everest 2019.
Foto: AP

Als 2019 ein Foto von einem langen Stau auf dem Weg zum Gipfel auftauchte, war der Aufschrei groß. Stau heißt auch immer Gefahr. Und trotzdem: Das Geschäft mit dem Berg hatte spätestens in den 1990ern auch die Regierungen von Nepal und China, die (gegen Bezahlung) sogenannte Kletterbewilligungen ausstellten, auf den Plan gerufen. Gerade für Nepal ist der Everest eine wichtige touristische Einnahmequelle. "Es wäre geheuchelt, die nepalesische Regierung dafür zu kritisieren, den Everest touristisch auszubeuten, denn das machen eigentlich alle Länder mit ihren Naturspektakeln", sagt Arnette.

Alan Arnette kennt sich mit dem Everest aus.
Foto: APA/AFP/PRAKASH MATHEMA

Aber: "Das Problem ist die Verteilung. Die Sherpa-Dörfer, die einen großen Anteil am touristischen Erfolg haben, sehen wenig bis nichts von den Einnahmen." Die chinesischen Kletterbewilligungen sind limitiert, Nepal stellt weiter unbegrenzt viele aus. Und achtet dabei penibel auf den Ruf: "Es ist mittlerweile verboten, Fotos von Staus zu machen oder Missstände vom Berg zu dokumentieren. Es herrscht eine starke Zensur", sagt Arnette.

Und die Zukunft? "Ich glaube nicht, dass wir bald einen Starbucks oder McDonald's auf dem Everest sehen, aber solange sich nicht etwas Grundlegendes bei den Verantwortlichen ändert, wird es auch nicht besser werden", erzählt Arnette.

Alle Zehen und eine Erkenntnis

Robert Schauer: "Es ist eine Gnade und auch ganz viel Glück, dass ich noch alle Zehen und Finger habe."

Robert Schauer hat die Berge mittlerweile hinter sich gelassen, der Ruf der Gefahr und des Risikos ist verstummt. 25 Jahre nach den tragischen Ereignissen auf dem Everest ist er froh: "Es ist eine Gnade und auch ganz viel Glück, dass ich noch alle Zehen und Finger habe. Und damit die Erleuchtung, dass solche Ziele für mich nicht mehr reizvoll sind."

Die Geschichte des höchsten Bergs der Welt ist in ihrem Kern zutiefst menschlich. Abenteuer, Ambition, Angst – Erfolg und Scheitern. Die fortschreitende Technologie hilft dabei auf die Überholspur, der Respekt vor dem Berg bleibt fast unweigerlich auf der Strecke: "Der Respekt kommt erst dann, wenn man daniederliegt und einem scheinbar nahen Ende entgegensieht. Dann kommt vielleicht die Erkenntnis, dass man zu weit gegangen ist." (Andreas Hagenauer, 10.5.2021)