Lyrik für alle: Erich Fried, streitbarer Humanist und linker Querkopf.

Foto: imago/Jürgen Ritter

Wohngemeinschaftsraum 1988. In einer Wohnküche öffnet ein junges Pärchen (Typ: Hainburger-Au-Besetzer) eine Schachtel Tiefkühlgemüse. Über dem Herd: ein Poster, das den Dichter Erich Fried zeigt. Nach Freilegung des Gemüses hält der junge Mann inne.

Er: Du liebe Zeit!

Sie: Was heißt da "Du liebe Zeit"? "Du unliebe Zeit" muss es heißen.

Er: Wie bitte?

Sie: "Du ungeliebte Zeit! / von dieser Unzeit, in der wir // leben müssen. Und doch / Sie ist unsere einzige Zeit …"

Er: Es ist Tiefkühlgemüse.

Sie: Nein, das ist das Gedicht Du liebe Zeit. Steht im neuen Erich-Fried-Band, Unverwundenes. (Draußen Vogelgezwitscher.)

Er: Hast du Tischill tschill gemacht, mein möhliges Krieb?

Sie: Aber nein. (Umarmt ihn plötzlich:) Du aber bist was mich tröhlt!

Er (nickt zuversichtlich): Dir bin ich immer gefröhlt.

(Sie rührt das Gemüse und leert es schließlich weg.)

Sie: Es ist Unsinn, sagt die Vernunft.

Er: Wieso? Ist es angebrannt?

Sie: Es ist unmöglich, sagt die Erfahrung.

Er: Ja, aber was ist es dann?

Sie (kurze Pause): "Es ist, was es ist / sagt die Liebe."

Der Lyriker und Homo politicus Erich Fried (1921–1988) wäre heute 100 Jahre alt geworden.

(Ronald Pohl, 6.5.2021)