Zahlreiche Staaten und Aktivisten fordern die Aufhebung der Patente auf Corona-Impfstoffe. Damit sollen Entwicklungsländer die Impflücke schließen können.

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US-Handelsbeauftragte Katherine Tai.

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Die Aufhebung des Patentschutzes soll die Unterversorgung von Entwicklungsländern mit Impfstoffen gegen das Coronavirus beheben, jedenfalls nach den Vorstellungen von mehr als hundert Staaten, allen voran Indien und Südafrika, die einen entsprechenden Vorstoß bei der Welthandelsorganisation (WTO) initiierten.

Mit einem radikalen Kurswechsel hat sich am Mittwoch nun auch US-Präsident Joe Biden für ein zeitlich begrenztes Aussetzen des Patentschutzes ausgesprochen. Die Regierung glaube an den Schutz des geistigen Eigentums, teilte Bidens Handelsbeauftragte Katherine Tai mit. Für das Ende der Pandemie verzichte man aber auf den Schutz für die Impfstoffe. Vom Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, erhielt Biden umgehend Lob: Es handle sich um einen "monumentalen Moment im Kampf gegen Covid-19".

Weltapotheke EU

Auch die EU kann sich vorstellen, die Patente aufzuheben. Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich jedenfalls am Donnerstag offen: "Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht." Bis dahin rufe man alle impfstoffproduzierenden Länder auf, "Exporte zu erlauben und alles zu vermeiden, was Lieferketten stören könnte" – eine Spitze der Kommissionschefin gegen Washington, das einen Export seiner Impfstoffe und auch von Impfungskomponenten wie Nadeln und Spritzen bisher weitgehend verhindert hat. Außerdem lagern in den USA Millionen Dosen des Serums von Astra Zeneca, ohne überhaupt zugelassen worden zu sein. Von der Leyen betonte, Europa sei "die einzige demokratische Region der Welt, die Exporte im großen Maßstab erlaubt". Es seien bereits mehr als 200 Millionen Dosen in den Rest der Welt geliefert worden, fast so viel, wie innerhalb der EU verabreicht wurde. Die EU sei die Apotheke der Welt.

Vorwürfe

Mehr als 100 WTO-Mitgliedsländer sind schon länger dafür, die Patente für die Impfstoffe auszusetzen, damit mehr Firmen in mehr Staaten Impfstoffe herstellen können. Ärmere Staaten werfen den Industrieländern vor, die vorhandene Impfstoffproduktion aufgekauft zu haben und eine Erhöhung der Produktion durch den Schutz der Patente unmöglich zu machen.

Der Kursschwenk der US-Regierung dürfte nicht kurzfristig zu mehr weltweit verfügbaren Impfstoffen führen. Sollte sich die WTO aber auf eine Aussetzung der Patente einigen, dürfte dies die langfristige Produktion deutlich ankurbeln. Die Handelsbeauftragte Tai erklärte zudem, die US-Regierung werde sich nun, da die Versorgung der eigenen Bevölkerung garantiert sei, weiter in Zusammenarbeit mit den Unternehmen dafür einsetzen, die Produktion anzukurbeln. Wir werden "auch daran arbeiten, die Produktion der für die Herstellung der Impfstoffe nötigen Rohstoffe zu steigern", erklärte sie.

Streit bei der WTO

Konkret geht es bei dem Streit bei der WTO in Genf um das Übereinkommen zu handelsbezogenen Aspekten der Rechte des geistigen Eigentums (Trips-Abkommen). Mit diesen und anderen Vereinbarungen will die WTO den freien Handel in geordneten Bahnen regeln.

Hilfsorganisationen, darunter etwa Ärzte ohne Grenzen, hatten vehement eine Aufhebung der Patente gefordert. Diplomaten aus der Schweiz wiederum, wo große Pharmakonzerne zu Hause sind, hatten eine Aussetzung der Patente noch im März abgelehnt. Sie argumentierten, es werde schon alles Menschenmögliche getan, um die Produktion anzukurbeln. Die Patente seien nötig für eine fruchtbare Kooperation zwischen Impfstoffentwicklern und -Herstellern. Die EU wiederum, in der ebenfalls große Pharmakonzerne angesiedelt sind, setzte sich für mehr Lizenzverträge zwischen Entwicklern und Herstellern ein.

Überraschende Kehrtwende

In der Branche ist man über Bidens Kehrtwende überrascht, gerierten sich die USA und Europa doch als Heimaten großer Impfstoffhersteller in der Vergangenheit als Verteidiger des Patentschutzes. Betont wird jedoch, dass es noch zu früh sei abzuschätzen, was eine Freigabe der Patente für die Hersteller bedeuten würde. Dafür müsse man erst wissen, wann, wo und in welcher Form der Patentschutz gelockert werden soll. Dass Nervosität herrscht, zeigt ein Blick auf die Börse. Die Aktien etwa von Biontech und Curevac gaben nach Bidens Erklärung nach.

Ausgangsstoffe und Geräte fehlen

Vertreter der Pharmaindustrie argumentieren, die Aufhebung der Patente bringe nicht automatisch mehr Impfstoff. Sämtliche qualifizierten Hersteller seien bereits mit Lizenzen in die Fabrikation eingebunden. Zudem sei vor allem die Produktion der mRNA-Impfstoffe sehr komplex. Sie argumentieren zudem, dass für ein Ankurbeln der Produktion viele Ausgangsstoffe und auch Geräte fehlten, die für die Herstellung nötig seien. Sie verwiesen darauf, dass aktuell bereits ein Vielfaches der normalen Impfstoffproduktion stattfinde, was zu Lieferengpässen führe.

Biontech-Partner Pfizer erklärte, sein Impfstoff enthalte 280 Komponenten von 86 Zulieferern aus 19 Ländern. Für die Produktion seien daher komplexe Spezialanlagen und ausgebildetes Personal nötig. Der Chef des internationalen Pharmaverbandes IFPMA, Thomas Cueni, sagte, auch wenn die Patente ausgesetzt würden, "würde in dieser Pandemie keine einzige zusätzliche Dosis die Menschen erreichen".

Auch Reneé Gallo-Daniel, Präsidentin des Österreichischen Verbands der Impfstoffhersteller (ÖVIH), sieht im gegenwärtigen Versorgungsproblem keines, das man mit einer Lockerung des Patentschutzes beheben könnte. "Wir wollen die ganze Weltbevölkerung gleichzeitig impfen, dazu fehlen Produktionskapazitäten und Personal – das bleibt auch so, wenn Patente freigegeben werden." Technologietransfer sei nicht das Problem der Versorgungssituation. Es habe sich zuletzt viel getan, Impfstoffhersteller würden laufend weltweit neue Partnerschaften eingehen, um die Sera zu produzieren. Ein Beispiel: Novartis wird in Österreich für Curevac produzieren.

Covax-Programm

Der massive Aufbau von weltweiten Produktionskapazitäten bedeute auch, dass man mit dem bestehenden Patentregime mittelfristig kein Versorgungsproblem haben werde, ist sich Gallo-Daniel sicher. Dass Impfstoffhersteller den weltweiten Markt versorgen, sei an und für sich nichts Neues, sagt sie mit Verweis auf Masern, gegen die weltweit geimpft wird. Um strukturschwächere Länder zu unterstützen, sei es besser, bestehende Initiativen wie Covax zu stärken. "Hebt man den Patentschutz auf, wird weniger geforscht und entwickelt", gibt Gallo-Daniel zu bedenken.

NGOs erfreut

Die NGO Ärzte ohne Grenzen begrüßt die Ankündigung. "Dass die USA Medienberichten zufolge den von Indien und Brasilien im Oktober eingebrachten Antrag zur Aufhebung der Patente für Corona-Impfstoffe und -Medikamente unterstützen, ist ein großer Erfolg", hieß es am Mittwochabend in einer Stellungnahme. Ärzte ohne Grenzen fordere seit Beginn der Pandemie die temporäre Aussetzung auf Patente. "Eine Pandemie ist erst dann zu Ende, wenn sie überall beendet wurde. Jetzt sind auch die europäischen Länder gefragt, Verantwortung zu übernehmen. Auch Österreich muss seine Blockadehaltung aufgeben." (Aloysius Widmann, Michael Vosatka, Reuters, 6.5.2021)