Die Ärztekammer fordert mehr Investitionen in die Gesundheitsversorgung.

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Die Gesundheitsversorgung in Österreich muss zukunftsfit gemacht werden, darauf drängt Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, in einem Pressegespräch am Donnerstag. "Machen wir uns keine Illusionen: Die Corona-Krise ist noch nicht ausgestanden", warnt er. Denn die Auswirkungen der ständig neuen Mutationen seien noch nicht absehbar, und die nächste Pandemie komme in unserer globalisierten Welt früher oder später ganz sicher, ist er überzeugt.

Investieren statt sparen

Vor allem die Kollateralschäden, die durch das Unterbleiben ärztlicher Leistungen während der Lockdowns entstanden sind, würden künftig für ein ernstes Gesundheitsproblem sorgen. Darum müsse unbedingt wirksam gegengesteuert werden. "Gesundheit sollte endlich als Investitions- und Wachstumssegment unserer Gesellschaft aufgefasst werden und nicht als Exerzierfeld für politische Einsparungsfantasien", so Steinhart.

Dass das auch die Bevölkerung so sieht, zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Ärztekammer. Der Gesundheitsbarometer zeigt, dass 63 Prozent der Befragten für mehr Investitionen plädieren. Große Verbesserungspotenziale sehen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer besonders in den Bereichen Pflege (80 Prozent), mehr Kassenstellen im niedergelassenen Bereich (60 Prozent), Spitäler (56 Prozent), Digitalisierung (56 Prozent) sowie Intensivbetten (48 Prozent). "Das deckt sich deutlich mit unseren Einschätzungen und entspricht auch unseren Forderungen an die Politik", fasst Steinhart zusammen.

Grenzen digitaler Medizin

Parallel dazu fordert Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres, "keine weiteren Einsparungen mehr vorzunehmen". Kritisch sieht er Vorschläge von Gesundheitsökonomen, durch digitalisierte Medizin hochqualifiziertes Personal überflüssig zu machen.

Telemedizin und Apps könnten die durchgehende Betreuung von Patienten zwar unterstützen, den Arzt selbst aber keinesfalls ersetzen. Obwohl die Telemedizin gerade während der Pandemie eine hervorragende Lösung gewesen sei, Patienten betreuen zu können, seien die digitalen Möglichkeiten endenwollend, sagt Szekeres. Statt zu überlegen, wie man im Gesundheitssystem einsparen könne, solle im Gegenteil darüber nachgedacht werden, wo im System investiert werden müsse: "Wir haben seit Jahren das Problem mit überlasteten Spitälern und Personalknappheit sowie mit unbesetzten Kassenstellen – diese Probleme gehören endlich angegangen", kritisiert er.

Die Ausgaben im Gesundheitsbereich seien in den vergangenen Jahren kaum gestiegen, obwohl die Bevölkerung älter werde und vom medizinischen Fortschritt profitiere. Während noch vor einiger Zeit manche Krankheiten tödlich endeten, könnten viele nun so gut behandelt werden, dass sie chronisch verlaufen. Doch "mehr Patienten erfordern auch mehr Personal, Spitalsärzte, qualifiziertes Pflegepersonal, mehr Kassenärzte – und dafür muss natürlich Geld in die Hand genommen werden", heißt es weiter.

Abwanderung verhindern

Das erfordere einerseits Investitionen in die Infrastruktur von Spitälern und Ordinationen, andererseits aber in Ausbildungsoffensiven. "Wenn der medizinische Nachwuchs aufgrund von Personal- und Zeitmangel ins Ausland flüchtet, weil dort bessere Bedingungen herrschen, dann haben wir ein ernstes Problem", warnt der ÖÄK-Präsident. Aber nicht nur die Ausbildung der Ärzte, sondern auch die der Pflege müsse an oberster Stelle stehen: "Wir benötigen nicht nur qualifizierte Ärzte, sondern selbstverständlich auch Pflegekräfte, denn ansonsten bricht unser Gesundheitssystem auseinander – und das kann keine App der Welt verhindern", sagt Szekeres in Richtung Politik.

Die Ärztekammer legt entsprechend einen Fünfpunkteplan für die Gesundheitsversorgung als Erkenntnisbilanz aus der Corona-Krise vor. Johannes Steinhart fordert darüber hinaus die Einführung eines Gesundheitspasses für alle Vorsorgeuntersuchungen mit Erinnerungsfunktion. Ähnlich wie beim Impfpass sollen hier alle Untersuchungen eingetragen werden. Er wünscht sich, dass diesen Pass auch die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) unterstützt, damit möglichst viele Menschen vom Nutzen solcher Programme profitieren.

Fünfpunkteplan

Die während der Pandemie forcierte Digitalisierung mit elektronischem Impfpass, elektronisch übermittelten Rezepten oder Online-Konsultationen von Ärzten solle "zügig weiterentwickelt werden", fordern die Mediziner. Dabei müsse aber nicht nur auf den Datenschutz geachtet werden. Medizinische Entscheidungen dürften nicht "nach Algorithmen getroffen werden". Das wäre für Steinhart "ein striktes No-Go".

Ein weiterer Punkt auf der Agenda müsse jedenfalls das Bilden von Sicherheitsreserven an Schutzausrüstung und Medikamenten im Fall einer nächsten Pandemie sein. Während sich in Österreich eine ausreichende Zahl an Intensivbetten bewährt habe, sei die knappe Kalkulation ohne Reserven in anderen Ländern zum Teil katastrophal gewesen.

Kollateralschäden

Die Kardiologin Bonni Syeda berichtet von Gewichtszunahmen der Menschen durch Bewegungsmangel und veränderte Ernährungsgewohnheiten als Folgen der Pandemie. Deshalb und wegen einer geringeren Zahl an Arztbesuchen und damit schlechterer Medikamenteneinstellung seien erhöhte Blutfett-, Blutzucker- und Blutdruckwerte festgestellt worden, die zu Herzinfarkt oder Schlaganfall führen könnten. "Es ist essenziell, dass wir die Menschen rechtzeitig zurück in die ärztliche Betreuung holen, um solche Langzeitfolgen zu vermeiden", sagt Syeda.

Außerdem sei es durch die Pandemie zu verzögerten Erstdiagnosen von Neuerkrankungen gekommen, und sie beklagt, dass man für bestimmte Kontrollen – etwa für Herzschrittmacher – in manchen Ambulanzen keine Termine bekomme. Syeda fordert deshalb, solche Leistungen auch bei niedergelassenen Ärzten als Kassenleistung anbieten zu können. Es gebe zwar seit Jahren Bestrebungen der Politik, diese und auch andere Leistungen in den niedergelassenen Bereich zu verlagern, aber das sei leider noch nicht passiert, betont sie.

Der lange Schatten einer Covid-Erkrankung

Problematisch ist die Lage im Fall von Long Covid, also Folgeerscheinungen, die viele Menschen Wochen oder sogar Monate nach einer durchlaufenen Covid-Erkrankung verspüren. Eine "Lancet"-Publikation mit über 1.700 Hospitalisierten zeigt, dass 63 Prozent der Patienten nach sechs Monaten nach wie vor an Symptomen leiden – bei milden Verläufen sind es immerhin noch rund 15 Prozent. "Bei mittlerweile über 600.000 Covid-Erkrankten in Österreich besteht Handlungsbedarf, damit die Betreuung dieser Patienten auch als Kassenleistung möglich ist", fordert die Kardiologin. Derzeit sei das nicht in allen Bereichen der Fall.

Um beispielsweise festzustellen, ob ein Patient infolge einer Covid-Infektion eine Herzmuskelentzündung hatte und dadurch eine Herzschwäche entwickelt hat, müsste der Laborparameter "NT-proBNP" bestimmt werden. Dieser ist jedoch keine Kassenleistung. Bei Verdacht auf eine Herzschwäche müsste ebenfalls ein Herzultraschall durchgeführt werden. Auch hier sind Kardiologen, aber auch Pulmologen durch Deckelungen limitiert.

"So lässt sich eine adäquate Betreuung der Long-Covid Patienten im Kassen-Bereich nicht umsetzen", stellt Syeda klar. Sie appelliert an die Politik, rasch die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen – um sowohl die Betreuung der Long-Covid Patienten im Kassenbereich zu ermöglichen, aber auch für jene Leistungen, die derzeit nur in den Spitalsambulanzen durchgeführt werden können. "Wir sind schließlich nach wie vor mittendrin in der Pandemie", so Syeda. "Es ist höchste Zeit, dass die Politik diesbezüglich handelt."

Mögliche Brustkrebs-Nachweise fanden nicht statt

Der Radiologe Franz Frühwald erläutert, dass die Zahl der radiologischen Untersuchungen im ersten Lockdown um bis zu 90 Prozent zurückgegangen ist. "Diese Einbrüche waren dramatisch", sagt er. Vor dem Hintergrund, dass Brustkrebs in Österreich bei Frauen der häufigste maligne Tumor und die Krebs-Todesursache Nummer Eins ist, sei es alarmierend, dass im ersten Corona-Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr die Zahl der Mammografien um 18 Prozent – in absoluten Zahlen um 125.789 – zurückgegangen ist, so Frühwald.

Das bedeutet hochgerechnet, dass in diesem Zeitabschnitt 150 mögliche Brustkrebs-Nachweise unterblieben sind, wie der Mediziner erläutert. "Diese nicht entdeckten Tumore wachsen weiter, manche könnten dadurch ein kaum behandelbares Stadium erreichen." Er appellierte daher an Patientinnen, versäumte Mammografien rasch nachzuholen und in der onkologischen Nachsorge die Intervalle einzuhalten.

Darmkrebs: 90 Prozent der Todesfälle wären vermeidbar

Der Chirurg Friedrich Anton Weiser schildert aus der Praxis, dass im Lockdown etwa 90 Prozent weniger Darmkrebs-Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt worden sind. Von diesen 800 bis 900 nicht untersuchten Menschen hätten hochgerechnet etwa 200 Polypen gehabt, wovon sich wiederum rund 40 Prozent früher oder später in einen Tumor umgewandelt hätten.

Dass die Menschen den Untersuchungen ferngeblieben sind, führt jetzt aber auch zu einem enormen Rückstau, der nur langsam abgebaut werden kann. Weiser: "Die Empfehlung im ersten Lockdown, den Besuch von Arztpraxen zu meiden, sollte in vergleichbaren Situationen nicht wiederholt werden." Denn dann werde das Gesundheitssystem hoffentlich in der Lage sein, ausreichend Schutzmaterialien für einen sicheren Ordinationsbetrieb zur Verfügung zu stellen.

Das in Kombination mit der Möglichkeit, Patienten als Kassenleistung per Telefon oder Video ihre Beschwerden schildern zu lassen, diese dann individuell zu beraten und nach Maßgabe ihrer Situation möglichst schnell zu behandeln, könnte bei der nächsten Gesundheitskrise die Kollateralschäden ersparen. (Julia Palmai, APA, 7.5.2021)