Zwei Jahre nach dem Ende der Serie wäre "Game of Thrones" noch immer keine stabile Demokratie.

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Anna Gamper, Verfassungsjuristin an der Universität Innsbruck, organisierte gemeinsam mit ihrem Institutskollegen Thomas Müller eine interdisziplinäre Tagung. Sie findet am 12. Mai online statt.

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Zu "Game of Thrones" kam Anna Gamper auf sehr herkömmlichem Weg: beim Zappen. Je länger sie zusah, umso mehr zog sie die vielschichtige Inszenierung von George R.R. Martins Fantasyromanen in ihren Bann. Nicht zuletzt, weil sie spannende Aspekte für die Staatslehre entdeckte – und das ist das Fach der Verfassungs- und Verwaltungsjuristin und Rechtsprofessorin an der Universität Innsbruck. Die rechtsstaatliche Beschaffenheit der Königslande bringt sie jetzt als Anschauungsmaterial in ihre Vorlesungen. Die Vielschichtigkeit der Serie inspirierte sie und ihren Institutskollegen Thomas Müller zu einer virtuellen Tagung. Am 12. Mai können Wissbegierige und Serienbegeisterte Vorträge über Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaft bis zu Theologie und Psychologie lauschen.

STANDARD: Zehn Jahre ist es her, dass die erste Folge startete, vor zwei Jahren ging die Saga zu Ende, und dieses Ende markierte gleichzeitig einen Anfang. Kann man die Wahlversammlung am Ende als Beginn einer parlamentarischen Monarchie sehen?

Gamper: Ich glaube nicht, weil auch am Ende der Serie das Parlament keine Rolle spielt. Bei dieser Versammlung handelt es sich um eine rein temporäre Veranstaltung, deren Aufgabe es lediglich ist, den König in Form einer Wahl zu bestimmen. Es findet ein Wechsel von einer Erbmonarchie zu einer Wahlmonarchie statt. Das heißt aber nicht, dass diese Wahlversammlung als Parlament bestehen bliebe. Bran Stark ist immer noch der König, der als absoluter Monarch herrschen wird. Man kann vielleicht darauf vertrauen, dass er aufgrund seines Charakters und seines Wissens weise und gut herrschen wird. Aber das bleibt letzten Endes ihm überlassen. Einen Beraterstab gab es davor ebenfalls – und vor allem die "Hand" des Königs. Die Monarchie bleibt dennoch eine absolute.

STANDARD: Sehen Sie wenigstens zarte Ansätze einer Demokratie?

Gamper: Im Serienfinale findet sich eine bezeichnende Formulierung, als Bran Stark sagt, er werde sich jetzt mit der Frage befassen, wo denn der Drache geblieben ist. Das ist ein wichtiger Satz, denn der verschwundene Drache bedeutet eine Menge Unsicherheit auch für die neue Monarchie. Man weiß nicht, wo er hingeflogen ist, man weiß nicht einmal, was mit Daenerys passiert. Es ist nicht auszuschließen, dass sie wieder zum Leben erweckt wird. Wir kennen aus der Serie ja Auferstehungen. Wenn man linear denken würde, könnte man vielleicht darauf vertrauen, dass Bran Stark ein guter Monarch wird, der versucht, weise und gerecht zu agieren, und der seinen Beratern großes Gewicht einräumt. Die Frage ist, ob er selbst Rechtsakte erlässt, die eine größere Demokratie ermöglichen. Seine Nachfolge ist zudem unklar: Ob es nach seinem Tod ein fixes Rotationsprinzip geben wird, ist nicht festgelegt. Wir wissen auch nicht, ob Sansa Stark oder der Norden dabei eine Stimme haben wird. Vertrauen kann man nur in den König selber und seine Weisheit, dass er die Vorteile eines Verfassungsstaats erkennen wird. Nur dann sehe ich in "Game of Thrones" eine Chance für die Demokratie.

STANDARD: Mit welchen realen Staatsformen ist "Game of Thrones" am Ende vergleichbar?

Gamper: Es gibt absolute Wahlmonarchien, man denke an den Vatikan, das Konklave, die Wahl des Papstes. Ein weiteres prominentes Vorbild ist das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Wir finden derzeit eine Wahlmonarchie in Malaysia oder auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo regionale Fürsten den Zentralherrscher bestimmen. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass es am Ende von "Game of Thrones" noch keine Indizien für eine Demokratie gibt. Im Beraterstab sitzen gute Charaktere, etwa Samwell Tarly, Brienne of Tarth, Tyrion als die neue Hand des Königs. Man schätzt sie als positive Charaktere, aber als Samwell demokratische Wahlen ins Spiel bringt, tun das die anderen weitgehend als lächerlich ab.

STANDARD: Demokratisches Bewusstsein muss man lernen. Woher sollen sie es können?

Gamper: Man kann die Hoffnung haben, ja. Ich erinnere allerdings an den Kreislauf der Staats- und Regierungsformen, den wir in der griechischen Staatsphilosophie und bei Cicero finden. Dort geht man zunächst von einem Modell mit einem guten König als Herrscher aus. Dieses gute Königtum, das am Gemeinwohl orientiert ist, entwickelt sich plötzlich in eine entartete Version, in eine negative Tyrannis. Das geht in die nächste Stufe, in eine gute Aristokratie, die nach einiger Zeit aber auch entartet, nämlich in eine schlechte Oligarchie mündet. Erst dann gäbe es nach dieser antiken Vorstellung eine Demokratie, und auch diese würde nach einer Zeit in eine Pöbelherrschaft entarten. Danach geht es wieder von vorne los mit einem zunächst guten König. Das ist natürlich eine Theorie, die mit diesem starren Ablaufschema nicht immer real zutrifft, aber bei "Game of Thrones" gibt es da und dort schon Übereinstimmungen.

STANDARD: Wie stark sind die Länder in den zwei Jahren geworden? Sansa ist ja so etwas wie die mächtige Landeshauptfrau des Nordens.

Gamper: Sansa ist eine mächtige interimistische "Landeshauptfrau", die eine unabhängige Königin wird. Der Zentralstaat der sieben Königreiche ist bis zum Tod von Robert Baratheon ein Staat mit Regionen, denen gewissermaßen "Landeshauptleute" vorstehen, mit den Starks im Norden. Danach zerfällt dieses Reich in Diadochenreiche, der Norden erklärt sich als unabhängig. In diesem Moment wird mit Robb Stark gleichzeitig ein König im Norden bestimmt, danach kommt Jon Snow. Am Ende sitzt Sansa Stark in der Wahlversammlung. Sie knüpft ihre Zustimmung zu Bran Stark als Monarchen an ihre Unabhängigkeit. Das ist ihr Preis. Ich finde diesen Akt interessant, wenn man ihn mit realen Sezessionen vergleicht. Die Sezessionen in "GoT" scheitern, wenn sie einseitig, gewalttätig, konfliktreich vorgenommen werden. Sie gelingen, wenn sie auf konsensualem Weg zustande kommen. Im Grunde genommen ist das nichts anderes als die fiktionale Umsetzung einer Doktrin, die sehr berühmt wurde, eine Entscheidung des kanadischen Supreme Court aus dem Jahr 1998 zu einer möglichen Sezession der Provinz Quebec. Der Supreme Court sagt, es ist nicht ausgeschlossen, dass Quebec unabhängig werden kann, aber nur wenn es Verhandlungen gibt zwischen dem Bund und den Territorien und Provinzen und wenn am Ende ein Konsens herausschaut. Und man sieht, dass diese Art von konsensueller Abspaltung einen Erfolg bringt, nicht aber auf einseitigem Wege.

STANDARD: Könnte das Ende von "Game of Thrones" Vorbild sein für Länder, in denen es gleichfalls Sezessionsbestrebungen gibt – etwa Spanien oder Belgien?

Gamper: Oder Schottland. Die schottische Ministerpräsidentin hat ein neues Referendum über eine Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. In Katalonien kam es 2017 sogar zu einer Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Parlaments. Diese wurde allerdings schnell vom dortigen Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt.

STANDARD: Durch Konsensfähigkeit zeichnete sich die gesamte Elitetruppe aus "Game of Thrones" ja nicht gerade aus. Deshalb die Frage: Wie schafft man es, aus Tyrannen begeisterte Demokraten zu machen?

Gamper: Das ist eine Frage, die von der jeweiligen Persönlichkeit abhängt. In der realen Geschichte wird man nicht viele Tyrannen finden, die bekehrt werden. Häufig werden Tyrannen umgebracht oder sterben eines natürlichen Todes, aber doch als Tyrannen. Wenn man das Ende von "Game of Thrones" betrachtet, so sind die, die übrig bleiben, durchwegs keine Tyrannen. Die müssen gar nicht gewandelt werden.

STANDARD: Die Nichttyrannen sind in einem barbarischen Umfeld sozialisiert worden und davon geprägt. Von Daenerys hätte man auch nicht erwartet, dass sie sich zu einer tyrannischen Massenmörderin entwickelt. Was es bräuchte, ist wahrscheinlich eine Verfassung?

Gamper: Genau, eine geschriebene Verfassung fehlt völlig. Es gibt ein wenig Gewohnheitsrecht, ein wenig Naturrecht, aber das ist von Land zu Land völlig unterschiedlich. Man kann die Hoffnung haben, dass gereifte, mutmaßlich verfassungsfreundliche Persönlichkeiten wie Samwell Tarly oder Tyrion Lannister einen guten Einfluss ausüben. Eine weitere Hoffnung besteht darin, dass es in der Bevölkerung eine gewisse Läuterungsphase gibt aufgrund der schlimmen Dinge, die passiert sind.

STANDARD: Im Zusammenhang mit "Game of Thrones" wird oft Machiavelli genannt. Welche Rechtsphilosophie bestimmt die Serie?

Gamper: Man muss generell aufpassen, dass man die Serie nicht mit Bedeutungen überfrachtet. Der Autor hat das Recht, dass man seine Kunst als Kunst sieht und es dabei belässt. Dessen ungeachtet ist es natürlich reizvoll, darüber nachzudenken. Ich sehe die stärkste Nähe zu Thomas Hobbes. Sein Hauptwerk ist "Leviathan" aus dem Jahr 1651. Der Name wurde von Hobbes gewählt in Anspielung auf ein biblisches Ungeheuer, das für ein ungeheures Machtmonopol des Staates steht. Beim Ungeheuer Leviathan drängt sich sofort der Vergleich zu den Drachen auf, zur riesigen Macht, die Daenerys durch sie hat. Die Serie zeigt aber auch, dass selbst Drachen –Instrumente der Macht – verwundbar sind.

STANDARD: Kann man Daenerys Targaryen als Populistin bezeichnen, eine, die beim Volk mit Versprechungen punktet, dann aber eine Schreckensherrschaft ausübt?

Gamper: Schwer zu sagen. Wie funktioniert Populismus? Durch einfache Appelle an das Volk, die jene, die sie ausrufen, beliebt machen sollen, obwohl möglicherweise kurzsichtige oder sogar verfassungsfeindliche politische Programme dahinterstecken. Man sollte aber nicht jede Volksverbundenheit als Populismus ansehen. Daenerys tritt am Beginn als guter Charakter in Erscheinung, sie ist tatsächlich davon beseelt, Menschen Freiheit und Gleichheit zu bringen. Sie glaubt bis zum Ende daran, dass sie dem Guten dient, zieht dieses Programm aber mit hochproblematischen Mitteln durch. Ihr Weg ist ein Exzess von Gewalt.

STANDARD: Gibt es aktuelle politische Themen oder Prozesse, in denen Sie Prinzipien von "Game of Thrones" wiedererkennen?

Gamper: Auf einer abstrakten Ebene ja. Es gibt auch heute noch Diktatoren, absolute Monarchien, Scheinrepubliken wie Nordkorea, das letzten Endes wie eine Erbmonarchie funktioniert. Es wurde immer wieder spekuliert, ob die sieben Königreiche für ganz bestimmte "führende" Staaten stehen. Das ist meiner Meinung nach zu weit hergeholt. Prozesse über eine längere historische Phase lassen sich aber sehr wohl beobachten: Staatenbildung, Zerfall der Staaten, Diadochenreiche, neue Einigungsprozesse durchfließen unsere Welt seit Jahrtausenden.

STANDARD: Können wir aus "GoT" etwas über Zustand und Wesen von modernen Demokratien lernen?

Gamper: Was man aus "Game of Thrones" in Bezug auf Demokratisierungsprozesse mitnehmen kann, ist das Abschreckende, wie man es also nicht machen soll. In den antiken griechischen Tragödien gab es die Vorstellung von Furcht und Mitleid, die der Zuschauer dieser Tragödien erleben sollte, was eine Katharsis, eine Reinigung des Menschen bewirken sollte. So würde ich auch die Saga sehen, die wir in "Game of Thrones" erleben. (Doris Priesching, 10.5.2021)

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