Die roten, hervorstechenden Augen sind das Markenzeichen der Zikade.

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Magicicada septendicim: In voller Pracht ist sie fast fünf Zentimeter lang, der Körper schwarz, auf der Unterseite mit orangefarbenen Streifen versehen. Ihre durchsichtigen Flügel lassen mit ihrer reichen Farbpalette an bunte Kirchenfenster denken. Ihr Markenzeichen sind rote, hervorstechende Augen. Weder beißt sie, noch sticht sie. Im Grunde handelt es sich bei der periodischen Zikade um ein harmloses Geschöpf.

Und dennoch herrscht in der Osthälfte der USA mal wieder Zikadenalarm. Sobald sich der Boden auf 64 Grad Fahrenheit erwärmt hat, was ungefähr 18 Grad Celsius entspricht, krabbeln Millionen dieser Exemplare zugleich aus dem Erdreich. Häuten sich und kriechen an allem empor, was senkrecht aus dem Boden ragt. Das können Zäune sein, meist sind es Bäume, in deren Wipfeln die männlichen Vertreter der Spezies dermaßen intensiv nach den Weibchen rufen, dass die Lautstärke des Chors 90 Dezibel erreichen kann. Vergleichbar mit einem vorbeiknatternden Motorrad. Oder einem benzingetriebenen Rasenmäher.

17 Jahre lang wachsen

Erwidern die Weibchen das Werben mit Gegenliebe, kommt es zur Paarung. Eier werden gelegt, irgendwann fallen Larven von Ästen zu Boden und graben sich ein. Dann beginnt der Zyklus von vorn. 17 Jahre lang, in manchen Fällen auch nur 13, wachsen die Larven, indem sie sich von Wurzeln ernähren, die sie anstechen und aussagen. Bis der Tag kommt, an dem es wieder an die frische Luft geht.

In diesem Mai, in und um Washington wahrscheinlich Mitte des Monats, ist es ein besonders zahlreich vertretener Jahrgang, der sein unterirdisches Labyrinth verlässt. Brood X, römisch beziffert, die Kindergeneration jener Brut-X-Insekten, die 2004 für Lärm sorgten. In 15 Bundesstaaten kann man das Naturwunder beobachten, von New York im Norden bis nach Georgia im Süden, von der Atlantikküste bis zum Mississippi. Im Extremfall, so zeigen es Bilder vom letzten Mal, sind Baumkronen derart dicht mit Zikaden besetzt, dass es an Heuschreckenschwärme erinnert. Obwohl zwischen Zikaden und Heuschrecken kein Verwandtschaftsverhältnis besteht.

Partyalarm

Ein Insektenforscher namens Michael Raupp, beschäftigt an der University of Maryland, hat dazu einprägsame Erklärungen voller Metaphern parat. "Safety in numbers" nennt er die Überlebensstrategie der Tierchen. Soll heißen: Sie agieren in Gruppen, möglichst simultan, sodass Feinde, die es auf sie abgesehen haben, unmöglich alle verspeisen können, wenn sie sich aus dem Untergrund wagen. "Wir haben es mit Teenagern zu tun, die ihr bisheriges Leben im Dunkeln verbrachten. Die müssen sich austoben, die wollen Party feiern", fügt Raupp schmunzelnd hinzu. "Also bitte nicht gleich die Nerven verlieren, wenn sie mal über die Stränge schlagen."

Auch den Bezug zur Corona-Pandemie hat der Entomologe, versiert im Umgang mit Medien, prompt hergestellt. Er vergleicht das Phänomen mit einer quälend langen Quarantäne, die nun ihr Ende findet, wenn auch nur für kurze Zeit. Nach fünf bis sechs Wochen ist nämlich alles vorbei, dann kehrt in normalerweise stillen Vorortvierteln wieder Ruhe ein.

Wer ist Barack Obama?

Betrachtet man es im historischen Kontext, bietet Magicicada septendicim die Gelegenheit, einmal in aller Ruhe zu reflektieren. Beim letzten Mal, als Brood X ans Tageslicht strebte, waren – vierzehn Monate nach dem Einmarsch – noch mehr als 140.000 US-Soldaten im Irak stationiert. George W. Bush stürzte sich in den Wahlkampf, in der Hoffnung auf eine zweite Amtszeit, die ihm die Amerikaner dann tatsächlich gewährten. Barack Obama saß, weitgehend unbekannt, im Senat des Bundesstaats Illinois, bevor er sich im Sommer 2004 mit einer fulminanten Parteitagsrede ins Rampenlicht katapultierte.

Donald Trump gelang nach einer Pleitewelle in der Glücksspielstadt Atlantic City ein glänzendes Comeback, nicht unbedingt im Immobiliengeschäft, wohl aber mit der Fernsehserie "The Apprentice", die seinerzeit Premiere feierte. Mark Zuckerberg studierte in Harvard, wo er – wenige Monate vor der Zikaden-Invasion jenes Frühjahrs – Facebook, damals noch The Facebook, gründete. iPhone und iPad waren noch nicht erfunden.

Und bei einem Tweet dachte man in der englischsprachigen Welt ausschließlich an das Zwitschern von Vögeln. (Frank Herrmann aus Washington, 7.5.2021)