Roland Geyer: "Die Pandemie hat unser Kulturverhalten schon stark gestört."

Sabine_Hauswirth

Den hohen Stellenwert des Theaters an der Wien zeigt nicht nur die Erinnerung an den Mozarts da-Ponte-Zyklus, den Dirigent Nikolaus Harnoncourt 2014 ebendort verwirklicht hat. Ende Mai wird selbiger auf DVD (Unitel) erscheinen. Für die kommende, seine letzte, Saison hat Intendant Roland Geyer ja auch etwa Martin Kušej als Regisseur für Puccinis "Tosca" engagiert. Und Weltstar Nina Stemme ist bei Jenufa zu hören, während die künftige Leiterin der Volksoper, Lotte de Beer, inszeniert, die sich in den letzten Jahren gerade an Geyers Haus einen Namen gemacht hat. Dass seine Saisonpläne unter dem Übermotto "Schwarze Nachthelle" firmieren, will Geyer klarer Weise nicht als Zukunftspessimismus gedeutet wissen, auch wenn er gewisse Sorgen nicht leugnet.

STANDARD: Am 19. Mai wird auch in Wien geöffnet. Ein Risiko?

Roland Geyer: Ich kann verstehen, dass Bürgermeister Michael Ludwig vorsichtig ist und berechtigte Sorgen hat, dass bei einer großen Öffnung am 19. Mai in Wien die Inzidenzzahlen wieder steigen könnten. Umso mehr freue ich mich, dass die Entscheidung der Öffnung uns ermöglicht, ab dem 26. Mai, unter Einhaltung des vorgesehenen Präventionskonzepts, das "Tristan Experiment" mit Günther Groissböck in der Kammeroper zeigen zu können.

STANDARD: Wieso war und ist es seit einiger Zeit in Spanien doch möglich, Oper vor Publikum zu spielen?

Geyer: Das ist eine sehr berechtigte Frage, und Spanien zeigt uns, dass ein Theaterbesuch mit gut durchdachten Sicherheitsmaßnahmen möglich ist. So eine Vorgehensweise meinte ich auch mit meiner Forderung an die Politik, die bisherigen Lebensformen durch gesicherte Maßnahmen trotz und mit dem Virus fortzusetzen.

STANDARD: " Schwarze Nachthelle" als Motto für die kommende, Ihre letzte Saison, das könnte als düster verstanden werden…

Geyer: Vor vier Jahren, als mein Vertrag für weitere zwei Jahre verlängert wurde, habe ich mein Konzept präsentiert, die abschließenden vier Saisonen meiner Intendanz dramaturgisch als Tagesablauf zu gestalten. 2018 sind wir unter dem Motto "a priori" im Morgengrauen aufgebrochen, um 2021/22 "summa summarum" in die "Schwarze Nachthelle" einzutauchen. Die Nacht als Ende des Tages schien mir das richtige Symbol für den Abschluss meiner künstlerischen Tätigkeit für das Theater an der Wien zu sein, weil ich in dieser prinzipiell die Reminiszenz an den vergangenen Tag vor dem nächsten Morgen sehe. Ja, die Nacht ist dunkel, muss aber nicht düster sein, und die Stücke, die ich für meinen letzten Spielplan gewählt habe, enden zwar großteils sehr dramatisch, sie verheißen aber auch die Helle des Morgens und der Hoffnung.

STANDARD: Hat das Erlebnis der Pandemie und der Lockdowns Ihre letzte Saison planungstechnisch und inhaltlich beeinflusst?

Geyer: Inhaltlich hat mich die Pandemie in keinster Weise bei meiner Programmdramaturgie beeinflusst. Ich musste aber zwei Projekte für unser Publikum und für die ausführenden Künstlerensembles in die kommende Spielzeit retten: Glucks "Orphée et Eurydice" in der Kammeroper, die letztes Frühjahr dem ersten Lockdown zum Opfer gefallen ist und aus dieser Saison das "Beethovenprojekt II" von John Neumeier mit seinem Hamburg Ballett, das in deren Heimatstadt noch immer auf seine Uraufführung wartet. Vor nicht einmal zwei Wochen habe ich das neue Ballettprojekt von Mai (2021) als "Intrada" auf Ende August verschoben. Wir müssen nach wie vor sehr flexibel auf die aktuelle Lage eingehen.

STANDARD: Es sticht beim Programm auch das ungewöhnliche Zurückgehen zu den Wurzeln des Operngenres heraus.

Geyer: Mein letzter Programmzyklus "summa summarum" beginnt mit der Geburt der Oper in 1600 mit Cavalieris "Rappresentatione " in der Regie von Robert Carsen und mit Dirigent Giovanni Antonini und spannt mit insgesamt zwölf Premieren im Theater an der Wien und in der Kammeroper den Bogen vom "Urknall" des Musiktheaters bis in die Gegenwart. Das Zurückgehen zu den Wurzeln ist eine Reminiszenz an das Musiktheater an sich und vor allem auch an meine Programmplanung der letzten 16 Jahre, in denen wir z. B. einen szenischen Monteverdi-Zyklus gezeigt haben. Hinzu kommt, dass ich unserem Publikum immer wieder vermittelt habe, dass die Geburtsstunde der Oper 1607 mit Monteverdis "L’Orfeo" war, aber die Musikwissenschaft das Geburtsjahr mit 1600 datiert.

STANDARD: Martin Kušej inszeniert "Tosca", war er schwer zu überreden?

Geyer: Nein, mit Martin Kušej war ich seit seiner Inszenierung von Strawinskis "The Rake’s Progress" über eine Regiearbeit am Theater an der Wien im Gespräch gewesen. Mit seiner Zeit in München und seiner Ernennung zum Direktor des Burgtheaters verging einige Zeit und ich bin sehr glücklich, dass wir uns auf eine "Tosca" einigen konnten, noch dazu in Zusammenarbeit mit Ingo Metzmacher, der erstmals eine Oper im Theater an der Wien dirigieren wird.

STANDARD: Lotte de Beer, die kommende Leiterin der Wiener Volksoper, inszeniert auch. Sie wäre womöglich ohne die Engagements im Theater an der Wien nie Volksopernchefin geworden.

Geyer: Mit dem Riesenerfolg der Inszenierung von Bizets "Die Perlenfischer" aus 2014 am Theater an der Wien wurde Lotte de Beer in Wien erst so richtig bekannt. Dass sie die Inszenierung von Janacek’s "Jenufa" übernimmt, hatten wir schon lange vorher vereinbart und sie hat mit der großartigen Nina Stemme als Küsterin, die dieses Rollendebüt erstmals am Theater an der Wien gibt, in der Titelpartie eine tolle Besetzung.

STANDARD: Ist durch die Pandemie ein Stagione-Haus im Vorteil gegenüber einem Repertoirehaus?

Geyer: Einerseits haben wir den Vorteil als Stagione-Haus, dass wir kein fix angestelltes Sängerensemble, Orchester und Chor haben und wir wie im Hochleistungssport eine gesicherte Campsituation schaffen können. Andererseits steht uns kein Ensemble fix zur Verfügung, das wir sofort von einem Tag auf den anderen Tag einsetzen können.

STANDARD: Die Häuser würden insgesamt einem schleichenden Tod entgegengehen, haben Sie unlängst gesagt, was war gemeint?

Geyer: Meine Aussage von Anfang des Jahres umfasste meine Sorge über die langfristige Perspektive, denn dieses Virus wird nicht einfach verschwinden, sondern wir werden noch länger damit leben müssen und dafür besonders auch im Kulturveranstaltungsbereich Strategien entwickeln müssen. Mit der Öffnung ab dem 19. Mai haben wir, die Kulturinstitutionen, jetzt endlich die Chance, diesem "schleichenden Tod" entgegen zu treten, indem wir unser Publikum in unsere Häuser wieder zurückholen und beleben.

STANDARD: Da hört man eine gewisse Kritik gegenüber den Maßnahmen der Politik durch?

Geyer: Präventionsmaßnahmen sind wichtig, diese haben wir auch im Theater an der Wien für alle Künstlerensembles, die seit Beginn der Pandemie mit und bei uns arbeiten. Meine Kritik oder – besser gesagt – Sorge gilt der geistigen und psychischen Gesundheit unserer Gesellschaft. Ohne gelebte und live performte Kunst und Kultur verlieren wir eine essentielle Balance in unserem System, es fehlt uns ein Korrektiv.

STANDARD: Die Wiener Festwochen zahlen, da sie nicht wie gewohnt stattfinden konnten, quasi Subventionen zurück. Wird das Theater an der Wien in eine ähnliche Situation geraten? Franz Patay, der Geschäftsführer der Vereinigten Bühnen Wien, hat das ausgeschlossen.

Geyer: Aufgrund der zugesicherten Subvention der Stadt Wien konnten wir fast alle Produktionen vor Fernsehkameras spielen, was mich insbesondere deshalb sehr freut, da wir damit vielen Künstlern und Ensembles ihre Existenz durch Arbeit und Verdienst erhalten konnten.

STANDARD: Wird die dicke Rechnung für den Kulturbereich noch kommen, wenn erst alles vorbei ist?

Geyer: Ich denke, dass wir alle noch nicht die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Pandemie abschätzen können. Insbesondere wie sich diese auf das langfristige Publikumsinteresse und Kaufverhalten auswirken wird. Die Frage ist doch nicht, ob nach der Öffnung nach dem 19. Mai die unzähligen Theatervorstellungen und Konzerte zu 50 Prozent "gestürmt" werden, sondern ob in 2022, 2023 usw. wieder hundert Prozent Auslastung erzielbar ist, wo es keine "leere Sitzplätzesubvention" mehr geben wird.

STANDARD: Wird die Pandemie das Kulturverhalten verändern?

Geyer: Die Pandemie hat unser Kulturverhalten jedenfalls schon stark gestört. Die Gewöhnung an die Digitalisierung der Kulturangebote ist groß und ich denke, unsere Kunden werden selektiver und finanziell bewußter mit ihren Entscheidungen für einen Konzert- oder Opernbesuch umgehen. (Ljubisa Tosic, 7.5.2021)