Über dieser Welt ist die Sonne längst untergegangen: Erwin Pröll (vor fünf Jahren), wie weiland Atlas den Theatersommer stemmend.

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Während der Monate Juli, August fliehen die Wiener die Backofenhitze ihrer geliebten Stadt. Sie retten sich ins Umland: immer dann, wenn der Asphalt weich geworden ist. Alfred Polgar verglich die hochsommerliche Nachgiebigkeit des Bodenbelags in Wien mit dem Herz eines unerbittlichen Vaters. Im letzten Akt eines Melodrams droht es vor lauter Rührseligkeit zu zerfließen.

Trotz Sommerhitze müssen Städter die Annehmlichkeiten eines ganzjährigen Theaterbetriebes keineswegs entbehren. Unzählige Bezirkshauptstädte und Marktgemeinden folgten spätestens in den 1980er-Jahren dem Beispiel der Festspielstadt Salzburg. Sie zogen das amüsierwillige Stadtvolk magisch an und ließen, mehr oder weniger weltlich gestimmt, gutes, altmodisches Theater spielen.

Vom Wiener Speckgürtel ausgehend, griff das Sommertheaterfieber allmählich sogar auf benachbarte Stifte und Klöster über. Gespielt wird seitdem ohne Unterlass. Jede natürliche Kulisse scheint für rührige Gemeindeväter Anlass genug, Theaterbegeisterte einzuladen und mit ihnen die unvermeidlichen Gelsen gleich mit zu Tisch zu bitten.

Die unlängst nachteilig in die Schlagzeilen geratene Festspielstadt Reichenau an der Rax bildet den funkelnden Edelstein im Diadem der Theatergemeinden. Was wurde nicht alles getan, um Wienerinnen und Wiener vom Genuss von Bühnenidyllen, weitab von Burg und Oper, restlos zu überzeugen. Man gab Calderón und Kleist hinter Ringmauern und vor Festungsgräben. Shakespeares "Ardenner Wald" erstand neu hinter Sankt Pölten. Sein "Illyrien" erglühte abendlich im Hausruckviertel, oder man wurde an das Ufer eines köstlich funkelnden Ziegelteichs gelockt.

Nüchterne Bestuhlung

Es wurden Wirtshaussäle okkupiert, Lustgärten nüchtern mit Holz bestuhlt. Burgtheater-Heroen erfüllten sich im Karriere-Herbst lange verheimlichte Wünsche und traten, in Wolken aus Puderstaub gehüllt, abends am Land vor ein staunendes Publikum. Etwa zu Ende der 1980er bemächtigte sich ein Drang zu Modernisierung auch solcher stillen Gemeinden, die abseits der frequentierten ÖBB-Routen lagen. Für Kritiker und andere Habitués begann damit die Ära samstägiger Busreisen. Man rollte gut klimatisiert zum Beispiel nach Melk an die Donau. Dort fanden sich prompt Zeit und Gelegenheit, beim andächtigen Verzehr einer Schlachtplatte der Suada des herbeigeeilten Bürgermeisters zu lauschen.

Während der Stadtvater nicht müde wurde, die Sehenswürdigkeit der neuen Fußgängerzone zu preisen oder die zweckmäßige Einrichtung des nahen Gewerbeparks, rollte die Sonne unmerklich hinab in den Donau-Strom. Da war für routinierte Theaterkritikerinnen endlich der Zeitpunkt gekommen, sich vom Wirten das zweite Stück Malakofftorte in Stanniol wickeln zu lassen. Es überstand, auf den Knien der Kritikerin schwitzend und schaukelnd, alle Akte von "Faust".

Bekenntnis zum Barock

Auf die barocken Ursprünge dieses keineswegs auf Niederösterreichs "Theatersommer" beschränkten Veranstaltungsreigens verweist bis heute ein Detail. Bekanntlich enthält der Festspielgedanke ein implizites Bekenntnis zur barocken Welt. Früher thronte zuoberst Gott der Herr. Heute nimmt für ihn der Landesfürst, die Landesfürstin diese überragende Stelle ein.

Um nur vom Wettergott zu schweigen. Dessen polterndes Auftreten hat ungezählte Thalia-Jünger dazu veranlasst, unverrichteter Dinge wieder heimzufahren: nach Wien. Noch viel häufiger passiert es freilich, dass die achte Abendstunde längst geschlagen hat, das Publikum mit den Schuhen auf dem Linoleum kratzt, doch der Vorhang (so vorhanden) will sich einfach nicht heben. Schon wähnt man den Hauptdarsteller unpässlich, die Chance zur Vorstellung vertan. Da fliegen die Saaltüren auf, und ein Heros wie Landesfürst Erwin Pröll eilt mit gehöriger Verspätung, die Stirne sorgenzerfurcht, herein.

Tiefe Erleichterung bemächtigt sich der Zuschauer. Sie haben ohnehin noch still den Begrüßungsworten des kulturzuständigen Gemeinderates nachgesonnen. Spontan brandet Applaus auf. Die hochsommerliche Einheit aus Theater, politischem Wohlwollen und guter Verdauung ist wiederhergestellt. Wie schon Karl Kraus mit Blick auf Salzburg und das einträgliche Festspieltreiben einst dichtete: "Ehre sei Gott in der Höhe der Preise". (Ronald Pohl, 8.5.2021)