Niederländische Proteste gegen den Lockdown im Jänner 2021 in Amsterdam.

AFP / APA / ROBIN VAN LONKHUIJSEN

Im März 2020 haben Regierungen auf der ganzen Welt beispiellose Maßnahmen ergriffen, um die Infektionsraten von Covid-19 einzudämmen. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen wie Südkorea, Schottland, Belgien oder Estland wurden in den meisten Ländern die Entscheidungen ohne die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger getroffen. Und das hat wohl auch mit dazu beigetragen, dass im Laufe des Vorjahrs die Zustimmung zum Regierungshandeln in der Gesellschaft stark nachließ.

In den Niederlanden wurden die Einwohnerinnen und Einwohner zwar auch nicht eingebunden. Doch Wissenschafter starteten dort vor ziemlich genau einem Jahr ein spannendes Experiment: Ein Online-Tool ermöglichte es 30.000 Menschen vom 29. April bis 4. Mai 2020, ihre Meinung zur Lockerung der Covid-19-Abriegelungsmaßnahmen im letzten Sommer zu äußern. Ausgangspunkt war dabei die folgende Überlegung: Was wäre, wenn so viele Bürger wie möglich jenseits von einfachen Ja-und-Nein-Fragen in die Krisenpolitik einbezogen würden?

Einigkeit statt Spaltung

Die Ergebnisse der Studie, die am Freitag im Fachblatt "PLoS One" veröffentlicht wurde, sind nicht minder interessant, aber auch nicht ganz überraschend: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer rieten mit überwältigender Mehrheit von einer Überlastung des Gesundheitssystems ab und sprachen sich für Entscheidungen aus, die zu Einigkeit und nicht zu Spaltung führen.

Eine der generelleren Schlussfolgerungen der Autoren um Niek Mouter (TU Delft): Wenn man die Bürgerinnen und Bürger während einer Pandemie oder anderen Krisensituationen in die Lage der politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger versetzt, kann dies das Bewusstsein für die Dilemmata der Regierung erhöhen und Erkenntnisse über die Zustimmung zu bestimmten Maßnahmen liefern.

"Participatory Value Evaluation"

Konkret handelte es sich bei der Methode um eine sogenannte "Participatory Value Evaluation" (PVE), was wörtlich übersetzt so viel wie "beteiligende Werteeinschätzung" heißt, die von der TU Delft entwickelt wurde. Wie die PVE im Allgemeinen und in diesem speziellen Fall funktioniert, zeigt das folgende Video:

TU Delft

Für das Experiment und die daraus resultierende Studie konnten die 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwischen acht Optionen wählen, wie sehr man den Lockdown in den Niederlanden lockern sollte. Dazu erhielten sie Informationen über die voraussichtlichen Auswirkungen der einzelnen Optionen auf das Gesundheitssystem.

Die PVE sammelte insgesamt rund 150.000 inhaltliche Argumente für oder gegen bestimmte Lockerungen, die mittels Software ausgewertet wurden. Die wichtigsten Ergebnisse der PVE in diesem konkreten Fall lauteten:

  • Die Teilnehmenden wollten eine Lockerung der Maßnahmen, aber nur so weit, dass die Gesundheitssysteme nicht überfordert werden.
  • Es gab Unterstützung für die Priorisierung der "Kontaktberufe" (wie etwa Friseure) bei den Öffnungsschritten, aber nicht für die Priorisierung anderer Gruppen, da die Teilnehmenden Einigkeit der Gesellschaft und nicht Spaltung wollten.
  • Die Teilnehmenden hielten bei ihren Abwägungen eine Reduktion von 100 Todesfällen bei Bürgerinnen und Bürgern unter 70 Jahren und eine Reduktion von 168 Todesfällen bei über 70-Jährigen für gleichwertig.

In grafischer Form sahen die Entscheidungen für oder gegen die acht Lockerungsschritte wie folgt aus:

Grafik: PLoS One, Mouten et al. 2021

Bessere Entscheidungsfindung

Unter dem Strich gaben vier von fünf Probanden außerdem an, dass die PVE eine gute Methode sei, um eine Beteiligung an der Entscheidungsfindung der Regierung zu ermöglichen, und die Teilnehmenden berichteten auch von einem gesteigerten Bewusstsein für die Dilemmata, denen die Regierung bei der Entscheidungsfindung gegenübersteht.

Die logische Schlussfolgerung von Studienleiter Niek Mouter, der die PVE mitentwickelte: "Diese Methode könnte von politischen Entscheidungsträgern genutzt werden, um die Öffentlichkeit in Zukunft in die politische Entscheidungsfindung bei Krisen einzubeziehen." (Klaus Taschwer, 7.5.2021)