Der Kampf der ÖVP gegen den Rechtsstaat hat seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Noch nie zuvor hat es ein Minister so weit kommen lassen, dass der Verfassungsgerichtshof den Bundespräsidenten ersuchen muss, eine richterliche Anordnung gegen ein Ministerium zu exekutieren. Gernot Blümel war dazu verpflichtet, Akten an den Untersuchungsausschuss zu liefern. Das passte dem Minister offenbar nicht, also ließ er es darauf ankommen. Wer ist stärker: die Politik oder das Recht?

Es war eine Kraftprobe, an der er scheitern musste. Und die zeigt, in welch tiefer Krise sich die ÖVP derzeit befindet. Wenn aus dem Auftrag, dem Staat zu dienen, die Hybris wird, der Staat selbst zu sein; wenn aus "Wir haben recht" plötzlich "Wir sind das Recht" wird: Spätestens dann ist offensichtlich, dass hier eine Partei aus der Balance geraten ist.

Der Kampf der ÖVP gegen den Rechtsstaat hat seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
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Zwar liegt auch nach drei Jahren als Kanzler noch weitgehend im Dunkeln, was Sebastian Kurz politisch eigentlich genau will. Aber eines ist sicher: die Kontrolle. Unter Kurz war die Partei das Siegen gewöhnt. Gedankt hat ihm die Partei das, indem sie ihm und seinem türkisen Team die Kontrolle über die ÖVP überlassen hat. Doch das ändert sich gerade. Im Dezember hat der Kanzler rund um die Lockdown-Frage die Kontrolle über seine Landeshauptleute verloren. Inzwischen widersprechen ihm manche sogar offen in Sitzungen. Der Untersuchungsausschuss sorgt mit Chats ständig für unkontrollierbare Enthüllungen. Als bekannt wurde, wie respektlos Kurz und seine Vertrauten über Vertreter der katholischen Kirche chatten, hat das bei ÖVP-Wählern im ländlichen Raum für Unverständnis gesorgt.

Wer sich von "der neuen Volkspartei" erwartet hat, dass sie für mehr Anstand in der Politik sorgen wird, muss nun in Chats nachlesen, wie Hinterzimmer-Deals weiterzugehen scheinen. Die Umfragewerte sinken – so schwach wie heute war der Kanzler noch nie.

Flucht nach vorn

Die ÖVP kann ihren Kampf gegen den Rechtsstaat nicht gewinnen. Denn die Grünen, die das Justizressort halten, haben bereits klargemacht, dass sie bei der Unabhängigkeit der Justiz nicht zurückweichen werden. Seitdem der mächtige Sektionschef im Justizministerium, Christian Pilnacek, suspendiert werden musste, ist der ÖVP ein wichtiger Kontrollmechanismus im Bereich der Justiz entglitten. Auch öffentlich ist der kleine Koalitionspartner nicht mehr so gefügig wie in der Anfangszeit.

Doch auch die Flucht nach vorn, also raus aus der Koalition, bleibt Kurz verwehrt. Die Sozialdemokraten haben einem "fliegenden Wechsel" bereits eine Absage erteilt. Die FPÖ ist nicht deutlich genug wiedererstarkt. Bleibt also nur, weiter mit den Grünen auszuharren.

In einer solchen Lage müsste für die Strategen der ÖVP die Eskalation des Finanzministers gegen die Verfassungsrichter ein Alarmzeichen sein. Offenbar ist der Parteispitze nicht klar, dass sie ihre Partei gerade selbst beschädigt.

Noch hätte Kurz die Chance, sein Projekt zu retten, indem er die Prinzipien des Rechtsstaates anerkennt, seine Partei sich den Vorwürfen stellt – und wenn diese sich erhärten, Konsequenzen zieht. Das wäre auch eine Chance für Kurz, sein angeschlagenes Regierungsteam zu erneuern, in dem Loyalität mehr zu zählen scheint als Kompetenz. Das Land braucht jetzt echte Reformen, um nach Corona durchzustarten. Die Krise der ÖVP darf keine Staatskrise werden. (Martin Kotynek, 7.5.2021)