Sahra Wagenknecht warnt vor zu viel Zuwanderung, sieht sich aber überhaupt nicht auf einer Linie mit der AfD, die ihr applaudiert.

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STANDARD: "Die Selbstgerechten" heißt Ihr kritisches Buch über Die Linke. Sind Sie noch gern in dieser Partei?

Wagenknecht: Ja, natürlich. Ich beschreibe ja nicht nur ein Problem der deutschen Linken, sondern das vieler linken und sozialdemokratischen Parteien in Europa. Außerdem habe ich sehr viel Zuspruch auch aus den eigenen Reihen bekommen. Es gibt viele Mitglieder, die sich darüber ärgern, dass die Linke oft auf die falschen Themen setzt und Diskussionen führt, die viele Menschen als abgehoben und belehrend wahrnehmen. Das führt dazu, dass der Einfluss linker Parteien sinkt.

STANDARD: Sie tadeln "Lifestyle-Linke", denen theoretische Debatten lieber sind als konkrete Hilfe für Benachteiligte. Was läuft falsch?

Wagenknecht: Ich nenne im Buch das Beispiel der Zigeuner-Soße von Knorr. Da gab es eine ungeheure Debatte über den "Rassismus" dieses Namens und zig Initiativen, damit das Wort "Zigeuner" getilgt wird. Neuerdings steht auf der Packung "Paprikasoße ungarische Art". Was für ein Sieg! Und gleichzeitig wurde den Knorr-Beschäftigten ein schlechterer Tarifvertrag mit niedrigeren Löhnen und Samstagsarbeit diktiert. Aber dazu gibt es nur Schweigen in der linksliberalen Twitter-Gemeinde!

STANDARD: Man kann sich ja für beides starkmachen.

Wagenknecht: Klar, man kann die Soße umbenennen. Aber viel wichtiger als solche Symbolpolitik ist doch der Kampf gegen reale Benachteiligungen. Wir haben echte Diskriminierung, etwa wenn Menschen mit ausländisch klingenden Namen keine Wohnung finden. Wenn stattdessen die Berliner Grünen den Begriff "Indianerhäuptling" aus einem Video ihrer Spitzenkandidatin löschen, weil man das auch nicht mehr sagen darf, versteht sowas allenfalls das hippe urbane Akademikermilieu. Einfachen Leuten mit echten Problemen dürfte da jedes Verständnis fehlen.

STANDARD: Auch Sprache sensibilisiert.

Wagenknecht: Viele Linke betreiben aber mit Sprache eine schöne Alibipolitik. Da kann man sich edel und antirassistisch fühlen. Aber in Wirklichkeit ändert sich nichts. Wer tatsächlich im Niedriglohnsektor etwas ändern möchte, der müsste sich mit wichtigen Teilen der Wirtschaft anlegen. Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass mancher Debatten über Sprachverbote und Lifestyle-Fragen auch deshalb bevorzugt, weil man da nie Gefahr läuft, einer mächtigen wirtschaftlichen Interessengruppe auf die Füße zu treten?

STANDARD: Wen spricht Die Linke denn stattdessen Ihrer Meinung nach an?

Wagenknecht: Resonanz dafür gibt es im akademischen Milieu der Groß- und Universitätsstädte, wo man großen Wert darauf legt, sich biologisch korrekt zu ernähren und mit dem E-Auto oder dem Fahrrad zu fahren.

STANDARD: Was ja grundsätzlich nichts Schlechtes ist.

Wagenknecht: Nein. Aber mich stört, wenn Privilegierte auf jene herabschauen, die ihr Grillfleisch beim Diskounter kaufen, weil sie eben mehr rechnen müssen. Gutverdiener in topsanierten Altbauwohnungen haben natürlich auch viel weniger Probleme, wenn Heizöl und Sprit teurer werden. Weniger Begünstige in Kleinstädten, die auf ihren Dieselwagen angewiesen sind, sehen das anders.

STANDARD: Beschreiben Sie nicht eigentlich Grünen-Wählerinnen und -Wähler?

Wagenknecht: Das geschilderte Milieu wählt überwiegend grün, das stimmt. Aber seit einiger Zeit versuchen SPD und wir als Linke immer stärker, mit den Grünen um deren Wählerschaft zu kämpfen. Das sind aber nicht die Benachteiligten. Sie haben deshalb auf viele Themen einen anderen Blick. Junge Leute aus der akademischen Mittelschicht haben etwa von der EU viele Vorteile, weil sie Erasmus-Stipendien nutzen und im Ausland Praktika machen, weil die Eltern das bezahlen können. Für viele Menschen ist das völlig unerreichbar. Für sie heißen die EU-Regeln: mehr Lohndruck und weniger Rente.

STANDARD: Und diese fühlen sich von den Linken nicht mehr vertreten?

Wagenknecht: Eigentlich von keiner Partei mehr. Sie wählen entweder gar nicht mehr oder aus Wut eben rechts. Schauen Sie das Ruhrgebiet an, das war früher eine SPD-Hochburg, heute wird viel AfD gewählt. Und im Osten, wo Die Linke ihre Hochburgen hatte, ist jetzt auch die AfD am stärksten.

STANDARD: Apropos AfD. Diese applaudiert Ihrer Aussage, wonach man Zuwanderung begrenzen müsse. Im Wahlkampf in Sachsen-Anhalt werden Ihr Bild und Zitate aus Ihrem Buch verwendet.

Wagenknecht: Dagegen wehre ich mich juristisch, das ist wirklich dreist. Aber wir dürfen es nicht der AfD überlassen, über Probleme im Zusammenhang mit hoher Zuwanderung zu reden.

STANDARD: Auch hier sind Sie mit vielen Parteikollegen nicht einer Meinung.

Wagenknecht: Zuwanderung wird auch oft aus einer speziellen Warte gefordert. Natürlich aus der Wirtschaft, weil sie billige Arbeitskräfte haben möchte, aber auch von wohlhabenden Menschen, die mit Flüchtlingen nie um eine Sozialwohnung konkurrieren müssen und deren Kinder auch keine Schule besuchen, in der die Mehrheit kein Deutsch spricht. Wenn Leute, die selbst nicht betroffen sind, dann andere belehren, dass es keine Probleme gibt, ist das arrogant. Außerdem kann man nicht so tun, als sei die Förderung von Migration eine internationalistische Heldentat. Sie schadet auch den Herkunftsländern, da eher die Bessergebildeten abwandern. Echter Internationalismus bedeutet, den armen Ländern vor Ort zu helfen.

STANDARD: Stört Sie der Beifall der AfD nicht?

Wagenknecht: Ein Argument wird nicht dadurch falsch, dass der Falsche Beifall klatscht. Man sollte der Rechten nicht die Macht geben, das zulässige Meinungsspektrum zu definieren. Und man muss schon unterscheiden: Die Rechte ist gegen Zuwanderung, weil sie in jedem Zuwanderer einen Terroristen sieht. Ich warne aus ganz anderen Gründen davor. Im Übrigen ist die Mehrheit der Bevölkerung in allen Ländern dafür, Zuwanderung zu begrenzen.

STANDARD: Sie gehen auch hart mit der Fridays-for-Future-Bewegung ins Gericht. Ist Klimaschutz kein linkes Anliegen?

Wagenknecht: Natürlich ist es gut, wenn junge Leute sich gegen den Klimawandel engagieren. Aber die Jugendlichen aus dieser Bewegung kamen vor allem aus gutsituierten akademischen Elternhäusern, das hat die Forderungen geprägt. Höhere Spritpreise kann man aus einer privilegierten Situation heraus leicht fordern. Ich glaube nicht, dass es gut ankommt, wenn Leute, denen es noch nie im Leben an etwas gefehlt hat, anderen Verzicht predigen. Das führt dazu, dass Klimaschutzziele weniger populär werden. Ich bedaure das.

STANDARD: Wie lautet Ihr Ansatz?

Wagenknecht: Wir dürfen bei der Klimapolitik die soziale Frage nicht aus den Augen verlieren. Klimapolitik, die auf Verteuerungen setzt, ist untauglich. Wir müssen darüber reden, wo und wie wir produzieren. Deglobalisierung erspart lange Transportwege. Die Politik müsste Unternehmen außerdem dazu verpflichten, langlebigere Produkte herzustellen, damit man nicht alle zwei Jahre etwas Neues braucht.

STANDARD: Was an Ihrer eigenen Partei, der Linken, finden Sie eigentlich noch gut?

Wagenknecht: Sie ist die einzige Partei, die Niedriglöhne und Rentenkürzungen kritisiert. Die einzige Partei, die noch nie einem Kriegseinsatz zugestimmt hat und konsequente Abrüstung fordert. Daher möchte ich natürlich, dass sie nicht noch schwächer wird.

STANDARD: 2018 haben Sie die Bewegung "Aufstehen" ins Leben gerufen, um SPD, Grüne und Ihre eigene Partei zu mehr linker Politik zu drängen. Warum ist das eingeschlafen?

Wagenknecht: Es gibt die Bewegung noch, junge Leute reaktivieren sie gerade, wir hatten ja auf einen Schlag 170.000 Mitstreiter gefunden. Das Problem ist: Deutschland ist eine Parteiendemokratie. Die Vorstände der Parteien haben unsere Forderungen völlig an sich abperlen lassen. Der Wunsch, die Parteien über das Projekt zu verändern, hat sich leider nicht erfüllt. (Birgit Baumann, 8.5.2021)