Peter Paal fällt gleich einmal mit der Tür ins Haus. Er sei zwar begeisterter Alpinist, aber selbst kein Höhenbergsteiger, weil er "die große Höhe und die Kälte nicht so gut verträgt". Die Enttäuschung hält sich in Grenzen. Der Südtiroler ist Anästhesist und Intensivmediziner im Krankenhaus Barmherzige Brüder in Salzburg. Und darüber hinaus Präsident des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit und Vizepräsident der Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin. Es wird schnell klar, dass der 47-Jährige auch ohne 8.000er-Sammlung viel zu erzählen hat.

STANDARD: Wieso hat der Mensch in der Höhe solche Probleme?

Paal: Der Mensch gehört zu den Säugetieren, und Säugetiere brauchen Sauerstoff. Das nennt sich aerober Stoffwechsel. Je höher man in der Atmosphäre hochkommt, desto weniger Sauerstoff ist vorhanden. Am Mount Everest ist im Vergleich zum Meeresspiegel nur mehr ein Drittel des Luftdrucks – und so nur mehr ein Drittel des Sauerstoffs vorhanden. Uns fehlt damit der Treibstoff für den Motor. Der Körper wandelt im aeroben Stoffwechsel Sauerstoff und Zucker in Adenosintriphosphat (ATP) um, das ist der Treibstoff, das Benzin, der die Zellen am Laufen hält. Wenn der Sauerstoff nicht mehr ausreichend vorhanden ist, ist nur mehr anaerober Stoffwechsel möglich und wir werden sauer. weil sich Milchsäure anreichert. Einen anaeroben Stoffwechsel können wir nur über eine kurze Zeit anwenden, ohne Schaden zu nehmen.

STANDARD: Manche Menschen können das besser als andere.

"Man muss schnell rauf auf den Gipfel und schnellstmöglich wieder runter."
Foto: Österreichisches Kuratorium für Alpine Sicherheit

Paal: Der Homo sapiens ist vor rund 60.000 Jahren aus der Mitte Afrikas ausgewandert. Wir europäische Nachkommen sind genetisch nicht an die Höhe angepasst. Es ist spannend, dass Menschen, die die hohen Gebirge besiedelt haben, zum Teil wesentlich besser angepasst sind. Ich spreche da zum Beispiel von den Tibetern und davon abstammenden Sherpa in Nepal. Die sind genetisch viel besser angepasst als etwa die Indios in den Anden, die sich erst später, vor circa 8.000 bis 10.000 Jahren, dort angesiedelt haben. Die Sherpa können besser mit der dünnen Luft umgehen, da heißt mehr Sauerstoff als zum Beispiel Europäer aus der dünnen Luft extrahieren. Sie sind in der Höhe leistungsstärker als Europäer und damit für viele westliche Expeditionen in der Höhe unverzichtbar.

STANDARD: Über 8.000 Metern spricht man von der Todeszone.

Paal: Der Sauerstoffmangel ist dort so ausgeprägt, dass aerober Stoffwechsel auch in Ruhe nur mehr am Limit möglich ist. Bei Aktivität wird ein zunehmend großer Teil des Stoffwechsels anaerob – und damit geht die Todesspirale, der Lauf gegen die Zeit, los. Die Trias, die einen umbringt, ist Sauerstoffmangel, Kälte und Wassermangel. Man verliert in der Höhe extrem viel Flüssigkeit. Wenn schon allein ein Liter Wasser im Körper fehlt, kann man schon zehn Prozent weniger Leistung bringen. Man atmet trockene, kalte Luft ein und dann feuchte warme Luft aus. Zusätzlich verliert der Körper durch das Schwitzen extrem viel Flüssigkeit, das Blut wird dicker, und es kommt schneller zu Erfrierungen. Höhenbergsteiger kochen ständig Schnee und Eis zu Wasser auf, ständiges Trinken in großer Höhe ist sehr wichtig.

STANDARD: Wie kann man die Gefahren in großer Höhe verhindern?

Paal: Man muss schnell rauf auf den Gipfel, und schnellst möglich wieder runter. Über 5.500 Meter ist kein kontinuierliches Leben möglich, die Luft ist zu dünn, man kann sich nicht mehr erholen und wird immer schwächer. Über 8.000 Meter in der Todeszone sind diese Sauerstoffmangel Effekte noch ausgeprägter. Jeder, der sich so großen Höhen exponiert, verliert schnell mehrere Kilogramm an Muskelmasse. Die Leistung, die der Körper über 8.000 Meter für Höhenanpassung und Leistung bringen muß, entspricht dem Vier- bis Fünffachen auf Meereshöhe. Diese Menge an Kalorien kann nicht mehr zugeführt werden, der Körper lebt auf Pump vom Körperfett und seinen Muskeln, man verdaut sich selbst. Deshalb wird man in der großer Höher immer dünner, man spricht vom katabolen Stoffwechsel. Mit zusätzlichem Sauerstoff sind diese negativen Effekte abgemindert. Möglichst gut höhenadaptiert zu sein und kurz in der Todeszone zu verbleiben, ist die beste Lebensversicherung.

STANDARD: Schnell ist dabei relativ, oder?

Paal: Hans Kammerlander, der in seinen guten Zeiten in den Alpen im Aufstieg weit über 1.000 Höhenmeter in einer Stunde schaffte, hat gesagt, dass über 8.000 Meter 100 Höhenmeter wie 1.000 Höhenmeter weiter unten sind. Der Sauerstoffmangel zwingt den Höhenbergsteiger ohne zusätzlichen Sauerstoff zu einer Fortbewegungsgeschwindigkeit wie einen sehr alten Menschen. So kann man sich das vorstellen.

STANDARD: Das klingt alles schrecklich.

Paal: Es ist extrem traumatisierend, weil es vor allem körperliche Pein ist. Vor allem für jene, die ohne Sauerstoff und ohne fremde Hilfe unterwegs sind. Bei kommerziellen Touren ist es durch die Unterstützung anders. Selbstverständlich bleiben viele objektive Gefahren auch bei kommerziellen Höhentouren bestehen.

STANDARD: Neben den bekannten drei Höhenkrankheiten*, also Acute Mountain Sickness (AMS), Höhenhirnödem (HACE) und Höhenlungenödem (HAPE) erzählen Höhenbergsteiger immer wieder von der Einschränkung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Es soll zu Halluzinationen und nicht nachvollziehbaren Entscheidungen kommen. Ist da was dran?

Paal: Man nennt das Höhenpsychose, und es ist mittlerweile als vierte Höhenkrankheit anerkannt. Die Höhe schränkt zunehmend die Gehirnfunktion ein und führt zu irrationalen Handlungen und Halluzinationen. Viele Höhenbergsteiger haben angegeben, dass sie dazu neigen bereits oberhalb 3.500 Metern zu halluzinieren, zum Beispiel Begleiter wahrnehmen, die ihnen Tipps geben wie: 'Setz dich doch hin und ruh dich aus.' Oder: 'Spring dort runter, da kommst du schneller wieder ins Tal.' Die Phänomene kommen mit zunehmender Höhe wahrscheinlich durch eine Mischung von Mangel an Sauerstoff, Wasser und Zucker vor. Die Gehirnzellen brauchen kontinuierlich ausreichend Sauerstoff und Zucker, sonst funktioniert das Gehirn nicht mehr richtig. Das Bewusstsein flackert wie eine Kerze. Die Fehlfunktion des Gehirns schleicht sich langsam und subtil ein, und wenn man dann runtergeht, verschwindet sie wieder.

STANDARD: Dazu kommt die fehlende Koordination.

Paal: Man sieht immer wieder, dass Menschen durch Erschöpfung stolpern oder einfach sitzen bleiben. Oder es kommt zu irrationalen Entscheidungen, dass man sich aus dem Fixseil aushängt und nicht weiß, warum. Solche Situationen sind typisch.

STANDARD: Die Schneeblindheit klingt harmloser, als sie ist, oder?

Paal: Schneeblindheit ist ein Sonnenbrand auf der Netzhaut und extrem gefährlich und kann tödliche Folgen haben. Wenn zu viel UV-Strahlung auf die Netzhaut gelangt, verbrennt sie. Im Grünen hat man 100 Prozent Strahlenintensität. Im Schnee ist die Intensität sechs- bis achtmal so hoch, durch die weiße Oberfläche, die wesentlich mehr Licht, wie in einem Parabolspiegel, reflektiert. Die Augen schmerzen und tränen massiv, man muss sie geschlossen halten. Man erblindet also und kommt ohne Hilfe nicht mehr runter.

STANDARD: Der Mount Everest hat durch die Kommerzialisierung, die Infrastruktur und die Hilfestellungen mittlerweile den Ruf eines leichten Berges. Könnte ein durchschnittlich trainierter Mensch morgen auf den Everest gehen?

Aufzeichnung während einer Messreihe beim Atmen in einer Atemhöhle einer künstlichen Lawine.
Foto: Hermann Brugger, EURAC Research, Bozen

Paal: Ich würde es niemandem empfehlen. Es ist objektiv einfach gefährlich, und da haben wir noch gar nicht über technische Schwierigkeiten, Lawinen, Gletscherspalten gesprochen. Je mehr man alpinistische Schwächen hat und sich anderen anvertraut, desto mehr gibt man sein Schicksal in die Hände von anderen. Damit fallen möglicherweise lebensrettende Sicherheitsnetze weg. Jene mit genügend alpiner Erfahrung, Akklimatisierung und der entsprechenden körperlichen und mentalen Stärke sind schnell und sicher unterwegs und haben die besten Gipfel- und Überlebenschancen. Ich würde auch von zu vollen Bergen abraten. Staus vor Schlüsselstellen machen den Berg zusätzlich durch den Zeitverlust gefährlich. Da sind wir wieder bei dem alpinen Credo 'Schnell rauf und schnell wieder runter'.

STANDARD: Rob Hall war 1996 rund 24 Stunden in dieser Höhe. Was sagen Sie dazu?

Paal: Ja, das war lang, aber man muss sagen, dass der Tod nur der Schlusspunkt ist. Er hatte ja schon im Vorfeld schwere Erfrierungen und litt unter extremer Erschöpfung. Man muss unterscheiden zwischen geplanten Aufenthalten und nicht geplanten, die dann zumeist massive Schäden mit sich bringen.

STANDARD: Erfrierungen sind wohl die allgemein bekanntesten Schäden, die man mit Bergsteigen verbindet.

Paal: Wir haben vor Jahren eine Studie in Österreich zu Erfrierungen durchgeführt, und sie sind extrem zurückgegangen. Wir sprechen von zwei bis drei klinisch relevanten Erfrierungen pro Jahr, die auf den alpinen Bereich zurückzuführen sind. Erfrierungen sind Kälteschäden an Endteilen des Körpers. Diese Körperteile sind so kalt, dass es zum Ausbilden von Eiskristallen in den Zellen kommt und diese zugrunde gehen. Zudem verklumpt das Blut in den kleinen Gefäßen, das Körpergewebe dahinter erstickt wenn zulange kein Blut fliesst. Erfrierung zeigt sich am Anfang durch Taubheitsgefühl, Kribbeln, Röte und Blasenbildung. Dann erkennt man totes oberflächliches Gewebe da es schwarz wird. Heutzutage ist man aber sehr zurückhaltend, schwarzes Gewebe abzunehmen. Man wartet lieber viele Tage oder sogar Wochen und schaut wie sich diese Zone zwischen tot und lebendig gegrenzt und nimmt so wenig wie möglich Gewebe ab.

"Höhenbergsteigen in fernen Ländern sollte man derzeit einfach nicht tun."
Foto: Österreichisches Kuratorium für Alpine Sicherheit

STANDARD: Am Everest, wo die Menschen zumeist viel besser ausgestattet sind, kommt das häufiger vor.

Paal: Die Zustände sind dort einfach viel extremer. Die häufigeren Erfrierungen kommen auch daher, dass Bergsteiger ihre Ausrüstung verlieren. Das kann neben Pech oder unglücklichen Umständen auch durch Höhenpsychosen verursacht sein, bei denen ein paradoxes Hitzegefühl auftritt und die Menschen sich dadurch Bekleidung vom Körper reißen.

STANDARD: Wird auch derzeit, also während der Pandemie, viel auf die Berge gegangen?

Paal: Es ist erstaunlicherweise sehr viel los auf den hohen Bergen der Welt. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass durch die Pandemie und die geschlossenen Grenzen fast keine Menschen unterwegs sind, aber ich habe mich getäuscht. Einerseits driften Menschen in die Armut ab, und andere wiederum gehen trekken, höhenbergsteigen und stecken sich im Mt. Everest Basecamp mit COVID-19 an. Das Leben ist gerade sehr facettenreich.

STANDARD: Sollte man also vom Bergsteigen während der Pandemie Abstand nehmen?

Paal: Man sollte jedenfalls die üblichen Hygienemaßnahmen berücksichtigen inklusive Maske tragen und Abstandhalten, regelmäßig testen und möglichst geimpft sein. Ohne dem geht's nicht.

STANDARD: Sie haben den Corona-Ausbruch im Everest-Basiscamp erwähnt.

Paal: Das lässt sich einfach nicht vermeiden. In einem Basislager ist es quasi unmöglich, die Hygienemaßnahmen und den Abstand einzuhalten. Die Leute kommen aus allen Teilen der Erdkugel, übernachten großteils nicht im Einzelzelt, es gibt Besprechungen in Gruppenzelten. Die Luft ist außerdem so dünn, dass man eigentlich keine FFP-2-Maske tragen kann. Verglichen mit Meereshöhe atmet man im Mt. Everest Basecamp zwecks Höhenakklimatisation unbewusst zwei bis drei Mal mehr Luft ein und aus. Damit steigt auch das Risiko einer COVID-19 Übertragung. Wenn ein COVID-19 Fall auftritt, ist also das Risiko der Ausbreitung sehr hoch. Höhenbergsteigen in fernen Ländern sollte man derzeit einfach nicht tun. (Andreas Hagenauer, 10.5.2021)