Das Ende der Welt. Auf dem Weg dorthin sind, wie vielerorts auf dem soeben überflogenen Kontinent und wie vielerorts auf der ganzen Welt, die Straßen leer. Ankunft Lissabon, Humberto Delgado. Absperrbänder, Abstand, Desinfektionsspender, Gesichtsmasken. Kein dystopischer Film, im zweiten Frühling der Pandemie ist das gewohnte Realität.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Leuchtturm am Cabo de São Vicente markiert die Südwestspitze des europäischen Festlands. Dort endet die Algarve an einer bis zu 70 Meter hohen Steilküste mit karger Vegetation.
Foto: Getty Images

Auf dem Weg zur Autobahnauffahrt ein einsamer Läufer zwischen den Handelshäusern, Tankstellen, Lagerhallen. Gleich danach strahlen die riesenhaften Brückenpylonen der Ponte Vasco da Gama in die Nacht, begleiten das Staunen über die schiere Endlosigkeit der Tejo-Brücke und erscheinen doch nur unwirklich wie so vieles, das in der Welt früher selbstverständlich war.

Raststätten ziehen wie geträumte Lichtbilder vorbei, dann wieder dunkle Leere rings um die eigenen Scheinwerferkegel. Kaum zwei Dutzend entgegenkommender Wägen auf den verbleibenden drei Autobahnstunden. Nur folgerichtig, dass auch das eigene Fahrgeräusch irgendwann wegbleibt ? in der Nacht, in der Leere, in der Gleichförmigkeit des Tempomats, unterwegs an einen jener Orte, die man seit Alters her Finis Terrae nannte.

Schaumgebremst

Schon am folgenden Morgen stimmt das Bild vom Weltende nicht mehr. Das Meerblau in den Fensterscheiben, die Gischtkronen in der Bucht, in ewiger Weise anrollende Wellen und ihr letztes leises Pfauchen im Auslaufen.

Einem springenden Tier gleich, Kopf und Vorderläufe nach vorne gerichtet, liegt Sagres im Atlantik. Ein Dorf auf dem letzten Plateau des Kontinents, sein von hohem Steinwall geschützter Fischereihafen, Klippen und Buchten, weiße Häuser, blaue Fensterumrahmungen, Stille in den Gassen.

Gesichtsmasken, Vorsicht und Abstand auch hier, doch gleichzeitig eine ruhige Zuversicht. Selbst die Surfer – als würde das Wort erst in dieser Situation zu sich finden: schaumgebremst. Lediglich zwei Tage eines Lockdowns sind an diesen Frühlingstagen in Portugal noch zu überdauern.

Augenmerk

Das Ende der Welt. Seit den Römern war es stückchenweise von den letzten Landspitzen Europas in Richtung afrikanischer Westküste gerückt, vor 600 Jahren änderte sich das schlagartig. Hauptverantwortlich dafür: ein gewisser Dom Henrique de Avis. Als Königssohn und weltlicher Administrator der portugiesischen Christusritter mit Macht und Geld ausgestattet, richtete er ab den 1420er-Jahren strategisches Augenmerk und finanzielle Mittel auf die Algarve, deren Gouverneur er wurde, vor allem jedoch auf das Meer.

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Blau des Atlantiks, unverändert seit damals, wie auch jede andere seiner Farben, Wogen, Nähen und Weiten.
Foto: Getty Images

Kein Seefahrer, wie sein Beiname ins Deutsche übersetzt wurde, sondern Navigator, und selbst das nur metaphorisch, war Dom Henrique. Und wasserscheu. Umso akribischer sorgte er von Land aus für Budget, Logistik und Dokumentation der portugiesischen Erkundungsfahrten. Über Jahre hinweg trug das Ziel nur einen Namen: Kap Bojador – als westlicher Ausläufer des Sahara-Gebirgszuges Dschebel el Aswad weithin sichtbar, galt das markante Kap seit dem Mittelalter als Ende der Welt.

Geringe Meerestiefe, Klippen und Sandbänke bestätigten den Beinamen Kap ohne Wiederkehr oft genug. Wo kein Wagemut der Welt half, rückten Dom Henriques Karavellen dem Weltende ab 1422 auf geradezu bürokratische Weise zu Leibe, vermaßen Meer wie Küsten, protokollierten Wind, Wetter, Strömungen und Routen, bis Gil Eanes auf Basis dieser Roteiros nach zwölf Jahren und unzähligen Versuchen im Jahr 1434 am Kap Bojador ein neues Kapitel aufschlug.

Zwei Tage noch

Zwei Tage noch. Das Blau des Atlantiks, unverändert seit damals, wie auch jede andere seiner Farben, Wogen, Nähen und Weiten. Bis ins Bett, direkt über der Bucht, reicht es Tag wie Nacht, als Aufbeben und Atemgeräusch, Ebbe und Flut. Mit geschlossenen Augen, mit offenen. Das Meer macht keinen Unterschied.

Der Hafen von Sagres
Foto: Getty Images/iStockphoto

"Dazu gehört ein Anspruch", wie Kleist schrieb, "den das Herz macht, und ein Abbruch ... den einem die Natur tut." In der Pandemie ist das womöglich umgekehrt. Den Abbruch tut einem das Herz, selbst wenn man aus einem derart luxuriösen Appartementhaus auf Martinhal, die stillste der fünf Buchten von Sagres, hinausblickt.

Zwei Tage noch, bis die Kellner an der Poolbar des Resorts wieder Kaffee oder Drinks servieren. Vor einem Meer als Kulisse, so türkis wie eine Fototapete. Was als Urlaubsidylle kaum zu übertreffen ist und leichthin jedes Gedächtnis an Unglücke, Kolonialismus, See- oder Handelskriege auslöscht, ist im zweiten Frühling der Pandemie erneut Ausgangspunkt einer Landnahme, die Gedanken an die portugiesischen Versorgungs- wie Handelsposten jenseits des Meeres nicht vollends abwegig erscheinen lässt.

Frischluft und Meer

Mit Serviced Apartments, WLAN und ganztägiger Kinderbetreuung als längst geübter Praxis ist es für das nach der Bucht benannte Resort nur ein logischer Schritt, um auf Basis sogenannter Longstays in der Pandemie eine Art Safe Space für Kunden zu etablieren, deren Bedürfnisse in derartigen Zeiten nur zu ähnlich sind.

Frischluft und Meer vor der Haustür, Kontaktlosigkeit in allen Belangen, Room- und Reparaturservice inklusive, auf Bestellung prompte Essenslieferungen sowie vollausgestattete Küchen in jedem Appartement, Weitläufigkeit, Sicherheit und Ruhe.

Tatsächlich begegnet man während der verbleibenden zwei Lockdowntage kaum jemandem. Da und dort abgestellte Wägen hinter den Appartementhäusern, die von Anwesenheit zeugen, geöffnete Balkonschiebetüren, Geklimper von Tellern und Besteck oder beinahe lautlos dahinruckelnde Golfwägen der Bediensteten, unterwegs zum Roomservice oder Bestellungen liefernd. Auch am langen Strand trifft man eher auf eigene Spuren als diejenigen anderer.

Aufgewacht

Bis die Kellner an der Poolbar wieder Drinks balancierten. Bis in der Bucht die ersten Windsurfer wieder auf und ab zogen, Kinder Drachen steigen ließen und auf dem Marktplatz von Sagres im Rücken der steinernen Statue des Dom Henrique Surferinnen und Surfer, Ortsansässige oder ihren Lebenstraum verwirklichende Frühpensionisten aus Deutschland, England, Spanien oder Frankreich wieder in den Stühlen der Gastgärten wie aus dem Winterschlaf aufgewachte Bären lehnten.

Der erste Kaffee, das erste Glas Bier, der erste Wein. Wie aus dem Nichts später ein erster Wanderer unterwegs Richtung Cabo de São Vicente, dem Rucksack nach zu schließen des Weges auf einer der beiden Trekkingrouten der Rota Vicentina. Vielleicht ist er bereits auf dem Schlussstück einer der am Cabo endenden Routen, dessen Leuchtturm als Südwestspitze des Kontinents hoch auf den Klippen ins Meer ragt, oder noch für viele Tage unterwegs, hinauf bis nach Sines.

In der Bucht von Martinhal liegt dezent in der Landschaft versteckt die gleichnamige Appartementanlage.
Foto: Martin Prinz

Wind streicht über die Landschaft. Mächtig, unentwegt und unsichtbar greift der Atlantik hier ins Land, lässt die Felsheide auf den letzten Kilometern lediglich noch auf Fels und Stein wurzeln. Umso trotziger wirkt das Grün dieser Tage, das Blühen darin, in Weiß, Gelb, Purpur und Lila, von Zistrosen, Veilchen, Ginster, Steinsamen oder Heidekraut. Dazu, fast mit Händen zu greifen und doch nur von kleinen Windstößen aufgewehte Luft, Thymian und Rosmarin.

Ende und Anfang

Wo Ende und Anfang derart in eins fallen, nimmt es nicht wunder, wie gegensätzlich die Welten sind. Ob es die Aussteiger, die Community der Surfer oder Pensionistenpaare sind, die ihre Träume vom Meer leben, ob die im Rhythmus von Alltag und Arbeit ansässigen Klippenbewohner von Sagres oder die an jedem Ort der Welt gleichermaßen lässig wirkenden Digital Nomads.

Oder eben die im Resort über der Bucht vielleicht das erste Mal aus der Ferne operierenden Firmenchefs, die sich auf den ersten und manchmal auch auf den zweiten Blick von jenen der ins Homeoffice katapultierten Digitalarbeitenden nicht unterscheiden, die sich ebenfalls ein derartiges Safe Space leisten.

"Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land," schrieb im letzten Jahrhundert eine Dichterin und verortete Böhmen am Meer. An den Küsten der Gegenwart, die ihre Geschichten von Anfang und Ende bereits erzählten, gibt es gute Gründe, nicht bloß die Navigatoren auszutauschen, sondern auch alle gewohnte Geografie. (Martin Prinz, RONDO, 14.5.2021)