Sally Davies fotografierte Flloyd NYC im New Yorker East Village. Früher arbeitete er als Go-Go-Tänzer, jetzt führt er eine Reinigungsfirma.

Foto: Sally Davies

Sally Davies ist seit über 30 Jahren zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs, um das Leben in New York abzulichten. Dazu gehört für sie ein leuchtendes Barschild ebenso wie ein regennasser Gehsteig, Graffiti oder rostige Autos. Ihr Credo in der Stadt, die niemals schläft, fasst sie so zusammen: "Entweder verliebst du dich in einen Müllsack im Mondlicht, oder du hasst das Bild und gehst weiter."

Ein Stück weit verliebt dürfte sich die Malerin und Meisterin der Street-Photography auch in die Protagonisten ihres neuen Buches New Yorkers haben, in dem sie die Bleiben von Malern, Taxifahrern, Schriftstellern und vielen anderen Bewohnern des Big Apple zeigt. Allesamt machen sie auf ihre Art und Weise klar, wie wenig gutes Wohnen mit Geld und wie viel es mit Persönlichkeit zu tun hat. Man könnt auch sagen: Homestorys der anderen, der ganz besonderen Art. Wir fragten sie, wie es zu dem Projekt kam.

"Meine Kunst und meine Wohnung reflektieren meine Liebe zum Amerikanischen und den Blick auf die Zeit, in der ich auf einer Farm in Minnesota aufwuchs." Steven Hammel, Künstler
Foto: Sally Davies

STANDARD: Sie kennen mittlerweile eine Unmenge von Wohnungen. Wie viel Raum benötigt man denn, um sich in einer Wohnung wohlfühlen zu können?

Sally Davies: In unseren Zeiten glauben viele Menschen, dass sie eine Riesenwohnung brauchen, um sich wohlzufühlen. Das ist kulturell irgendwie so gewachsen. Aber es ist nicht wahr! Schönheit kann uns im größten Haus, aber auch im kleinsten Appartement begegnen und überraschen. Ich denke, es hängt davon ab, welche Persönlichkeit im jeweiligen Zuhause wohnt und sich einrichtet. Die meisten Menschen in Großstädten wie New York City haben ja nicht im Entferntesten eine Möglichkeit, in großen Wohnungen zu leben.

STANDARD: Auch die Mieten sind horrend ...

Davies: Ja, das stimmt. Aber man muss den Traum eines schönen Zuhauses nicht opfern, nur weil eine Wohnung klein ist. Das ist ein Irrglaube, wie man auf meinen Fotos sieht.

STANDARD: Wie wählten Sie die 72 Kandidaten für Ihr Buch aus? Mussten Sie sie überreden, mitzumachen?

"Ich kam 1980 hierher und wurde Teil dieses Schmelztiegels aus Künstlern, Dealern und Ukrainern. Es war wie Paris zwischen den Weltkriegen. Es ist ein Geschenk, mit all der Kunst hier leben zu dürfen." Gracie Mansion, Kunsthändlerin
Foto: Sally Davies

Davies: Nun, ich hätte eine ganze Menge Leute auf Social Media anfragen können. Aber das war nicht nötig. Eine Handvoll Freiwillige kannte ich schon, und jeder und jede von ihnen kannte jemanden anderen, der gerne mitmachen wollte. Ich hätte Hunderte und Aberhunderte mehr fotografieren können, aber wie dick kann ein Buch werden? Also musste ich irgendwann Stopp sagen. Und das ist gut so.

STANDARD: Haben Sie Menschen im Buch, deren Bilder und Geschichten Ihnen besonders am Herzen liegen?

Davies: Es ist unmöglich, einen Liebling herauszufischen. Jede Geschichte einer jeden Person ist so verschieden zu jeder anderen. Das Buch bringt sie alle unter einem Dach zusammen wie eine Patchworkdecke, die eine ganze große Story über die New Yorker erzählt. Ich finde in jedem Foto etwas, das ich liebe.

STANDARD: Zum Beispiel?

"Ich lebe im East Village seit 1952. Ich liebe es. Gewänne ich im Lotto, würde ich mir etwas Hübscheres in der Gegend suchen, aber dieses Appartement behalten. Es würde mir fehlen." Vicky Ramon, ehemalige Arbeiterin
Foto: Sally Davies

Davies: Schauen Sie sich nur Vicky Roman (siehe Bild) und ihre Kühlschrankmagneten-Sammlung sowie ihren Hund Sparky an. Genau ein Foto wie dieses sagt doch "Home is where the heart is", oder? Da sind so viele Bilder, die mir einen "Thrill" geben. Faszinierend ist auch das Bild, auf dem die Fotokollektion von Danny Field zu sehen ist. Sie zeigt Bilder von New York aus einer Zeit, die längst vergangen ist und nie zurückkommen wird. Ein Wahnsinn!

STANDARD: Ihre Bilder sind sehr anders als die gängigen Homestorys in Hochglanzmagazinen. Sie zeigen keine Pools und zurechtdrapierten Salons samt Unmengen an Coffee-Table-Books.

Davies: Nein, wie gesagt, ich wollte Momente des Zufalls präsentieren. Menschen und Wohnungen, die ein Gesicht von New York zeigen, und das aus allen Gesellschaftsschichten. Ein Buch lediglich über reiche Leute in Riesenhütten hätte mich weder interessiert, noch würde es ein Abbild des wahren Lebens abgeben.

STANDARD: Sie wurden 1956 im kanadischen Winnipeg geboren und leben seit 1983 im New Yorker East Village. Was hat sich in den fast 40 Jahren verändert?

"Ich habe mich auch während meiner Zeit in Florida immer als New Yorker gefühlt. Es ist großartig, in Brooklyn zu leben und mit der Fähre zur Arbeit zu fahren." Bruze Mazer, Immobilienmanager
Foto: Sally Davies

Davies: Als ich nach New York City zog, war diese Stadt noch ganz anders, als sie jetzt ist. Ich wohnte im alten Appartement des berühmten Autors und Dichters Alan Ginsberg, der 1997 verstarb. Die Gegend hatte ein Riesenproblem mit Drogen. Unser Haus hatte kein Haustor, also konnten all die Drogensüchtigen einfach reinkommen und ihr Dope irgendwo im Haus checken. Das ist so gut wie Vergangenheit. Ich lebe immer noch in der Gegend, aber die Nachbarschaft ist angenehmer. Es ist auch heute noch gefährlicher als anderswo, aber es ist wie gesagt viel besser geworden. Die Welt hat sich mittlerweile verändert.

STANDARD: Was denken Sie im Jahr 2021 über den Begriff "der amerikanische Traum"?

Davies: Ich bin mir nicht sicher, ob es den noch gibt. Vielleicht existiert er noch, aber wenn, dann hat er sich gewandelt. Also aufs Wohnen bezogen würde ich sagen, dass das kleine, hübsche, weiße Vorstadthaus mit seinem Lattenzaun nicht mehr zeitgemäß ist.

Die Fotografin Sally Davies und ihr Hündchen "Bun".
Foto: Sally Davies

STANDARD: Haben Sie einen Wohntraum? Ich meine ein Hausboot in San Francisco oder ein Schloss in Frankreich?

Davies: Ja, ich habe tatsächlich einen. Ich würde sehr gern in einem alten Gewerbekomplex wohnen, vielleicht in Kalifornien. Ich denke dabei an ein großes Loft, wo ich nicht nur als Fotografin, sondern auch als Malerin arbeiten könnte.

STANDARD: Wie lautet denn die Definition für ein wirklich perfektes Daheim? Was macht es aus?

Davies: Ich denke, davon hat jeder eine andere Vorstellung. Und genau das ist es, warum auch dieses Buch realisiert habe. Es gibt doch eine gute Antwort auf Ihre Frage, oder?(Michael Hausenblas, RONDO, 14.5.2021)


Weiterlesen:

Kulturwissenschafter übers Wohnen: "Nach dem Ausmisten ist vor dem Ausmisten"

Möbelstücke aus dem Waldorf Astoria New York werden versteigert