Kein Kavaliersdelikt: Finanzminister Gernot Blümel hat nachweislich gegen die Rechtsordnung verstoßen.

Foto: H. Corn

Finanzminister Blümel hat gegen die Verfassung verstoßen. Auch dann, wenn er angesichts der Exekution doch gehorcht. Es handelt sich um den schwersten Verstoß gegen die Rechtsordnung, dessen sich ein Minister schuldig machen kann. Die Voraussetzung für eine Anklage ist gegeben. Ein Gastkommentar vom ehemaligen Präsidialchef des Kanzleramts Manfred Matzka.

Hätte mich einmal einer meiner Studenten gefragt, warum es keinen Kommentar zu Art. 146 B-VG (Exekution von Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs) gibt, hätte ich lächelnd gesagt: Der Artikel wirkt allein durch seine Existenz auf dem Papier, man wird ihn nie vollziehen müssen, denn natürlich befolgen alle staatlichen Organe solche Entscheidungen.

So kann man sich täuschen.

Denn der Finanzminister hat einen Beschluss des VfGH vorsätzlich nicht befolgt. Man soll sich von Vernebelungsversuchen nicht verwirren lassen – der Datenschutz und die Fürsorgepflicht des Ministers spielen hier nicht die geringste Rolle, es ging niemals um Gesundheitsdaten von Beamten, sondern nur um dienstliche Fakten. Es liegt kein Rechtfertigungsgrund für das gesetzwidrige Verhalten vor, und es war vom Minister nicht zu prüfen, ob man da irgendwie rauskommen könnte. Man soll sich auch nicht von dem Spin täuschen lassen, "das Bundesministerium" sei zur Aktenlieferung verpflichtet gewesen, "das BMF" habe nicht geliefert, werde aber jetzt auf Weisung sofort liefern. Das verantwortliche Organ ist immer der Minister und nur er.

Nicht mit dem Status eines Bürgers vergleichbar

Der Finanzminister hat gegen die Verfassung verstoßen. Das ist keine Kleinigkeit. Man kann das nicht mit einem Bürger vergleichen, der seine rechtskräftig festgesetzte Steuer nicht zahlt und bei dem daher exekutiert wird: Der Bürger handelt zwar ebenso gesetzwidrig wie der Finanzminister, aber er ist im Gegensatz zu diesem nicht auf die getreuliche Beachtung der Verfassung vereidigt. Der Bürger ist kein Vollzugsorgan der Rechtsordnung, der Minister schon. Das ist ein gravierender Unterschied. Und der Finanzminister hat auch nicht gelobt, dass er keinen Widerstand leisten wird, wenn man bei ihm wegen Gesetzesbruchs exekutiert, sondern er hat gelobt, die Gesetze nicht zu brechen.

Dieses noch nie Dagewesene (selbst Jörg Haider hatte mehr Respekt vor einer VfGH-Entscheidung) dürfte sogar dem Kanzler aufgestoßen sein. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass es ein hartes Telefonat zwischen ihm und seinem die Umfragewerte drückenden Minister gab, das mit dem Satz endete "Und wenn ich sage heute, dann meine ich auch heute". Anders ist wohl die eilfertige Meldung des Ministers nicht zu erklären, er werde sicher noch heute tun, was er am 4. März schon hätte tun sollen.

Das System ist empfindlicher, als man denkt

Unsere Verfassung, wie jede andere auch, lebt davon, dass die Staatsorgane immer und aus freien Stücken das tun, was ihnen die Verfassung befiehlt. Das ist vor allem für Grenzorgane wichtig, also solche Organe, die niemanden über sich haben. Wenn sich diese nicht an die Regeln halten, droht ein Zusammenbruch des Systems. Ein Nationalrat, der nicht zusammentritt, ein Bundespräsident, der keinen Kanzler ernennt, ein Kanzler, der den Wahltermin nicht kundmacht – solche Konstellationen können eskalieren und das Gefüge zum Einsturz bringen. Man hat 1933 gesehen, wie schnell das gehen kann. Der Fall eines Ministers, der eine VfGH-Entscheidung nicht befolgt, ist so eine Konstellation.

Eine Exekutionsbestimmung ist ja nur mehr die Notbremse. Sie unterstützt lediglich, was die Staatsorgane ohnehin geschworen haben: die Entscheidung des zuständigen Gerichts zu befolgen. Sie ist die allerletzte Antwort auf eine Frage, für die es eigentlich in einem Verfassungsstaat niemals einen Anlass geben darf, nämlich die rhetorische Frage: "Und was geschieht, wenn sich ein oberstes Organ nicht verfassungstreu verhält?"

Es ist hier und heute ein Glücksfall, dass es diese Exekutionsbestimmung bei den Entscheidungen des VfGH gibt. Bei vielen anderen Verfassungsbrüchen, die denkbar sind, gibt es eine solche nicht. Da wird es dann wirklich brenzlig, wenn ein Verantwortlicher die Verfassung bricht, und daher darf so etwas nie und unter keinen Umständen geschehen.

Anklage erforderlich

Genau deshalb ist eine Nichtbefolgung eines VfGH-Entscheids durch einen Minister kein Kavaliersdelikt, nichts, was schon einmal passieren kann, nichts, was man so oder so sehen könnte, nichts, was im Nachhinein leicht reparabel wäre. Es ist ein Verfassungsbruch, nichts weniger als das. Und es bleibt ein Verfassungsbruch, selbst wenn der Minister angesichts der bevorstehenden Exekution doch gehorcht. Es ist – abgesehen von einer kriminellen Straftat – der schwerste Verstoß gegen die Rechtsordnung, dessen sich ein Minister schuldig machen kann.

Die Verfassung hat für einen solchen Verstoß eine Reaktion vorgesehen: Sie normiert, dass die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit der obersten Bundesorgane für eine durch ihre Amtstätigkeit erfolgte schuldhafte Rechtsverletzung durch Ministeranklage geltend gemacht werden kann. Diese erfolgt durch Beschluss des Nationalrates, der eigentlich im Fall einer evidenten Verfassungsverletzung nicht einmal den Ermessensspielraum hat, nicht anzuklagen. Die Voraussetzungen für eine solche Anklage sind jedenfalls gegeben, wenn ein Minister einer VfGH-Entscheidung schuldhaft nicht Folge leistet.

In der Verfassungsrealität spielt aber beim Anklagebeschluss nicht nur diese klare rechtliche Lage, sondern auch die Mehrheitskonstellation im Nationalrat eine Rolle. Es wäre vernünftig und entspräche dem Geist der Verfassung, wenn jetzt der Nationalrat selbst und in einer geheimen Abstimmung darüber entschiede, ob sich der Rechtsstaat oder die politische Opportunität durchsetzen soll. (Manfred Matzka, 8.5.2021)