Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon deutet nach Wahlerfolg schottisches Unabhängigkeitsreferendum für 2022 an.

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Darf Schottland das Vereinigte Königreich verlassen, wenn die Mehrheit dies will? Nach dem klaren Votum der Bevölkerung am vergangenen Donnerstag wird sich Premierminister Boris Johnson der Beantwortung dieser Frage nicht auf Dauer entziehen können.

Bei seinem Amtsantritt als "Erster Gebieter des Schatzkanzleramtes", wie der britische Regierungschef offiziell heißt, machte sich der Engländer auch gleich noch zum "Minister für die Union". Dass er anschließend rücksichtslos einen harten Brexit samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion der EU durchsetzte, hat die ohnehin fragile Union empfindlich geschwächt. Denn so knapp das bei weitem bevölkerungsreichste England sowie Wales sich im Juni 2016 für den Austritt aus der Union entschieden, so eindeutig wollten Nordiren (mit 56 Prozent) und Schotten (62) dabeibleiben. Während für die besonders delikate Situation Nordirlands eine Speziallösung gefunden wurde, teilte London den Schotten unverblümt mit: "Friss oder stirb".

Kontinuierliches Regierungshandeln

Die stolze Nation will weder das eine noch das andere. Zum vierten Mal in Folge haben die Schotten eine Regionalregierung unter Leitung der Nationalpartei SNP ins Amt gewählt. Gewiss war dies zum großen Teil der Popularität von Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon zuzuschreiben. Zudem dürfte der Wunsch eine Rolle gespielt haben, mitten in der Covid-Pandemie kontinuierliches Regierungshandeln sicherzustellen. Doch stand in den Wahlprogrammen von SNP, Grünen sowie der kleinen Alba-Partei unmissverständlich die Forderung nach einer zweiten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit. Gemeinsam gewannen sie 50,1 Prozent der Stimmen.

Premierminister Johnson hat das Ansinnen als "unverantwortlich und rücksichtslos" zurückgewiesen, schließlich habe Schottland beim ersten Mal 2014 mit 55:45 Prozent eine klare Antwort gegeben. An dieser Tatsache ist nichts zu deuteln. Ebenso wahr bleibt aber: Die damalige Entscheidung basierte nicht zuletzt auf einer Unsicherheit darüber, ob das unabhängig gewordene Land rasch in die EU zurückkehren könne. Jetzt ist der Sachverhalt genau umgekehrt: Von London zum Austritt gezwungen, können die Nationalisten die Rückkehr an den Brüsseler Verhandlungstisch zur Trumpfkarte machen.

Unter Zugzwang

Die stets vorsichtig agierende SNP-Chefin Sturgeon hat zu Recht die Erholung von der Pandemie zur Priorität erhoben. Sie steht aber auch unter Zugzwang: An das Versprechen einer neuerlichen Volksabstimmung "in der ersten Hälfte der Legislatur", also spätestens im Herbst 2023, werden die Ungeduldigen in Partei und Gesellschaft die Regierungschefin dauernd erinnern.

Sturgeon wird ihre Truppen an das Beispiel von Quebec erinnern: Sollte das Referendum zum zweiten Mal für die Union ausgehen, ist der Traum vom eigenen Staat auf Jahrzehnte hinaus vom Tisch. Und die Nation ist in der Mitte gespalten.

Dennoch: Über die Zukunft Schottlands muss in Schottland entschieden werden. Johnson mag verzögern, feilschen, behindern – Nein zu sagen kann sich London nicht leisten. Denn dann wäre bewiesen, "dass das Vereinigte Königreich keine freiwillige Union unterschiedlicher Nationen ist", wie Sturgeon argumentiert. Und das hätte verheerende Folgen fürs ganze Land. (Sebastian Borger, 10.5.2021)