Die Erwartungshaltung war von Vorsicht geprägt, als eine österreichische Regierungsdelegation am 11. April 1955 ein Flugzeug auf dem sowjetischen Militärflugplatz Bad Vöslau bestieg. Zehn Jahre lagen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück, in denen die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Österreichs viele Höhen und Tiefen erlebt hatte. Mehrmals war ein Abschluss der Verhandlungen über den Abzug der alliierten Besatzungsmächte greifbar erschienen, nur um dann doch wieder blockiert zu werden – mal von den Westmächten, mal von der Sowjetunion. Ob die Einladung nach Moskau nun ein gutes Zeichen war, dahingehend konnten sich die österreichischen Passagiere keineswegs in Sicherheit wiegen.

Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) hatte noch kurz vor der Reise gemeint, er selbst verspreche sich nicht viel davon, und Außenminister Leopold Figl, sein Parteikollege, wolle erst gar nicht nach Moskau. Bruno Kreisky (SPÖ) wiederum, als Staatssekretär im Außenministerium mit an Bord, warnte: "Ein vollkommenes Scheitern der Besprechungen mit den Russen könnte Folgen haben, gegen die uns der Westen nicht schützen kann." Nur Monate vor der Einladung nach Moskau hatten die Westmächte die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die Nato beschlossen – und damit eine latente Sorge in Österreich genährt: dass es zu einer weiteren Einzementierung der Ost-West-Besetzung des Landes kommen könnte, im schlimmsten Fall sogar zu einer Teilung.

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Am 15. Mai 1955 wurde der "Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich" unterzeichnet, am 27. Juli 1955 trat er in Kraft.
Foto: Picturedesk/Barbara Gindl

Falsche Darstellung

Doch stattdessen brachte der Besuch im Kreml den endgültigen Durchbruch in den Verhandlungen über einen österreichischen Staatsvertrag: Die Sowjetunion zeigte sich bereit, die "österreichische Frage" unabhängig von Deutschland zu lösen. "Der Preis dafür war die Neutralität", sagt Gerald Stourzh. Und dieser Preis wurde energisch eingefordert. "Das ist in Österreich immer wieder auch von offiziellen Personen falsch dargestellt worden, aber es waren nicht die Österreicher, die in Moskau die Neutralität vorgeschlagen haben."

Stourzh, geboren 1929, kennt die Geschichte des österreichischen Staatsvertrags wie kein anderer. Der emeritierte Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien beschäftigt sich seit Ende der 1950er-Jahre intensiv mit der Entstehungsgeschichte des Dokuments und hat über die Jahrzehnte immer neue Details dazu aus Archiven in aller Welt zusammengetragen.

Moskauer Ablehnung

Im vergangenen Herbst ist die sechste Auflage seines monumentalen Standardwerks "Der Kampf um den Staatsvertrag" (Böhlau-Verlag) erschienen, auch sie ist um zahlreiche neue Entdeckungen und erstmals auch um einen Mitautor reicher: Wolfgang Mueller, Professor für russische Geschichte an der Universität Wien, hat neues Archivmaterial aus Russland ausgewertet, darunter die Korrespondenz der Kommunistischen Partei Österreichs mit der sowjetischen Regierung über die Errichtung eines kommunistischen Staats in Ostösterreich. Doch Moskau lehnte den 1948 von der KPÖ eingebrachten Vorschlag einer Teilung des Landes klar ab, wie Mueller zeigen konnte. Denn sie hätte unweigerlich zu einer stärkeren Anbindung Westösterreichs an Westdeutschland geführt, was keinesfalls im sowjetischen Interesse liegen konnte.

Wie aber nahm die Idee der Neutralität Fahrt auf, die letztlich allen Seiten als akzeptable Lösung erscheinen sollte? Für Stourzh gibt es drei Schlüsselmomente im langen Ringen um die österreichische Souveränität – und alle drei haben mit der Neutralität zu tun. Die erste Weichenstellung datiert auf den Jänner 1954, wenige Wochen vor der Berliner Konferenz, bei der sich die Außenminister der Siegermächte treffen sollten, um die Zukunft Deutschlands und Österreichs zu besprechen.

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Jubelnde Menschenmassen auf den Straßen....
Foto: Picturedesk/Erich Lessing

Stille Post

In Vorbereitung darauf bestellte US-Präsident Dwight D. Eisenhower seinen Außenminister John Foster Dulles zu einem Arbeitsfrühstück ein und ließ ihn wissen: Er hätte keine Einwände, wenn sich Österreich zu einer Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz verpflichten würde. "Diese Aussage ist zentral, weil zuvor aus den diplomatischen Akten der Amerikaner und der Engländer immer wieder herauszulesen war, man hätte Österreich offiziell oder inoffiziell als Mitglied der Nato gesehen", sagt Stourzh.

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...und winkende Signatare auf dem Balkon im Wiener Schloss Belvedere nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags. Von links: Pinay, Molotow, Figl, Dulles und MacMillian.
Foto: Picturedesk

Schnell macht Eisenhowers Standpunkt die Runde. Auf der Konferenz in Berlin im Februar 1954 berichtet der US-Außenminister Dulles seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow unter vier Augen davon, das ist für Stourzh der zweite entscheidende Moment in der Geschichte. Denn für Moskau ist die Information von großer Bedeutung: Der Plan der Amerikaner, zumindest den Westteil Österreichs in die Nato zu integrieren, ist offenbar nicht in Stein gemeißelt. Eine Neutralität Österreichs würde eine stärkere Anbindung an den Westen verhindern – aus sowjetischer Sicht ein klarer Vorteil.

Die dritte Schlüsselszene spielt im April 1955 bei den Verhandlungen mit der österreichischen Delegation in Moskau. Die sowjetische Regierung macht die österreichische Neutralität zur Bedingung für den Abschluss des Staatsvertrags – und zwar in derselben Formulierung, die zuvor von Eisenhower über Dulles an Molotow gegangen war: nach dem Vorbild der Schweiz. Denn die Amerikaner, das hatte der US-Außenminister klargemacht, würden dieser Definition zustimmen.

Bedeutungsvoller Beigeschmack

Für Stourzh hat die dezidierte Erwähnung der Schweiz durch den US-Präsidenten aber noch einen anderen, unausgesprochenen Beigeschmack: Eisenhower kannte als ehemaliger Oberkommandierender der Nato in Europa die militärische Lage genau. "Er musste wissen, dass auch die Schweiz im Geheimen Gespräche mit der Nato für den Fall eines sowjetischen Angriffs führte. Da hätte sich die Schweiz sicher auf die Seite des Westens gestellt, auch militärisch." Vielleicht, spekuliert der Historiker, dachte Eisenhower diese Rolle für Österreich auch gleich mit.

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Auf einem Gerüst vor dem Stephansdom läutete die neue Pummerin die österreichische Souveränität ein. Die alte Domglocke war im April 1945 zerstört worden.
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Dass die Neutralität schließlich auch zu einem wichtigen identitätsstiftenden Faktor für Österreich werden sollte, war noch nicht absehbar, als die Regierungsdelegation am 15. April 1955 wieder in Bad Vöslau landete und Bundeskanzler Raab verkündete: "Österreich wird frei sein." Genau einen Monat später wurde der Staatsvertrag unterzeichnet. (David Rennert, 15.5.2021)