Im ersten Moment klingt es ein bisserl wie "Schnaps-Schuss". So wie im allseits bekannten Spruch "in vino veritas": Alkohol sorgt für Authentizität, das könnte doch auch eine sehr plausible Erklärung sein. Aber natürlich heißen die besonders gelungenen Fotos, für die niemand extra posiert hat, "Schnappschuss". Es geht nämlich nicht um den Promillegrad, sondern um den Augenblick, wer hätte das gedacht!

Das Auge, der Blick. Seitdem Menschen bewusst wurde, dass das Leben generell und prinzipiell vergänglich ist, also einen Anfang und ein Ende hat, ist das Festhalten des Moments ein wesentliches Motiv der Existenzfindung. In Goethes Faust ist es sogar des Pudels Kern: "Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde geh’n!" Das war Fausts Versprechen an Mephisto: Hier ging es um alles, um das Innerste, um die Seele selbst. Schade eigentlich, dass es zu Johann Wolfgangs Zeiten noch keine Fotoapparate gegeben hat. Das wäre was gewesen.

Der Fotograf Leo Jahn-Dietrichstein dokumentierte mit seiner Street-Photography Szenen aus dem Nachkriegswien. Eine Auswahl seiner Werke befindet sich im Besitz des Wien-Museums.
Foto: @Wien Museum/Birgit u Peter Kainz

Digitaler Volkssport

Die großen uralten philosophischen Motive finden sich im heutigen täglichen Leben wieder – ganz wie sich das gehört, sonst hätte die Philosophie ja keine Existenzberechtigung. Genau darum geht es bei der Street-Photography: Momente festhalten, (wahrscheinlich) nicht für immer, aber zumindest so lange, als dass man sie mit der jeweiligen Umwelt teilen kann. Und das ganz ohne einen Deal mit dem Teufel.

Street-Photography heißt: im öffentlichen urbanen Raum herumstromern, besondere Situationen erkennen und davon Fotos machen, die auf keine Art und Weise vorbereitet wurden. Draußen, ohne zuvor besprochene Posen, ohne spezielle Beleuchtung, ohne (viel) Planung.

Street-Photography selbst gibt’s schon, seit es halbwegs portable Kameras gibt. Zum Schlagwort – und zum Volkssport – wurde sie mit der Verbreitung der kleinformatigen Digitalkameras. Aber: Ein g’schwindes Foto machen kann jede. Ein g’schwindes, gutes Foto, das braucht, wie es in Wien so schön heißt, "a G’spür". Es gibt große Qualitätsunterschiede zwischen fad und grandios. Die zu erkennen lässt sich beim Stadtspaziergang bestens trainieren.

Augen auf!

"Einfach rausgehen und schauen. Die Augen aufmachen!" Die Wiener Fotografin Nelo Ruber ist einer der jungen Stars der Wiener Street-Photography-Szene. Ihre "poignanten", spannenden Wien-Shots finden sich auf ihrer Instagram-Seite @nelo_ruber. Einer davon hätte bald in illustrer Nachbarschaft (von u. a. Emil Mayer, August Stauda, Barbara Pflaum oder Edith Suschitzky) auch in der Ausstellung Augenblick!

Straßenfotografie in Wien im Wien-Museum Musa zu sehen sein sollen – die musste allerdings kurzfristig auf 2022 verschoben werden. Impulse für aspirierende Street-Photographer gibt’s bis dahin halt direkt auf der Straße. Oder in anderen Museen. Oder im Internet: Das Belvedere z. B. hat in der Onlinesammlung ein paar ausgewählte, sehr feine Exponate, und die Social Media, allen voran Instagram, gehen derzeit sowieso über von Bildern von Lockdown-Spaziergängerinnen und -gängern auf der Fotopirsch.

Die Seele im Schiachen

"Es gibt so viele spannende oder lustige Situationen im Alltag", so Ruber. "Man muss sie nur erkennen – oder halt auch mal im Regen ein wenig warten, bis der leuchtend rote Schirm als Farbtupfer daherkommt" – oder bis hinter der Gedenktafel die dafür unpassendsten Plakate affichiert wurden, die Geschäftsauslage besonders "originell" gestaltet wurde, oder bis der steinerne Mann überm Haustor im Abendlicht besonders sexy dreinschaut.

Die Wienerin Nelo Ruber gilt als einer der Stars der zeitgenössischen Street-Photography-Szene.
Foto: Nelo Ruber

Gerade eine vielschichtige, multikulturelle und geschichtsträchtige Großstadt wie Wien bietet für Street-Photography ein überschäumendes Füllhorn an täglich wechselnden Motiven. Es hat was regelrecht Meditatives, die vertrauten Straßen seines Grätzels zu durchwandern und nicht nur auf Auslagen und Hundstrümmerln zu schauen (für die haben wir als geübte Wienerinnen und Wiener eh einen eigenen Sensor am Blickfeldrand), sondern auch mal nach oben: Die Stadt gehört dir und existiert auch über die Erdgeschoßgeschäftsflächen hinaus. Es gibt unendlich viel Wunderbares zu entdecken – und auch Grundschiaches. Und hier setzt wieder das erwähnte G’spür ein: Wer die versteckte schöne Seele findet im Grundschiachen, der kommt schon sehr, sehr nahe ran an die große Kunst.

Noch spannender wird’s, wenn man sich aus dem Heimatbezirk oder den eh schon totfotografierten Innenstadtgässchen ins Unbekannte wagt. Den Außenbezirken wird zwar oft nicht unbedingt größtmögliche Fotogenität nachgesagt – das ist aber nur ein Vorwand für unkreative Klotze, nicht doch einmal genauer hinzuschauen. Von der Simmeringer Hauptstraße bis nach Floridsdorf und weiter. Vielleicht ist das, was man dort findet, nicht lieb und hübsch, aber dafür aufregend. Und das Schlimmste, was dabei rauskommen kann, sind eine oder zwei verschwendete Kamera-Akkuladungen.

Ganz demokratisch

Was Street-Photography so zugänglich macht, ist, dass sie, rein technisch und auch finanziell gesehen, nicht sehr herausfordernd ist – deshalb gilt sie wohl auch als eine der demokratischsten Kunstformen. Viele Street-Photographer arbeiten mit einem guten Handy, andere schätzen die aussterbenden "single use devices": Ruber fotografiert mit der großen Canon, die Autorin mit einer Fujifilm X-T30.

Wichtig ist auch eine gewisse Grundhöflichkeit. Nicht nur mag es niemand, wenn ihm oder ihr beim Gedankenlos-blöd-Dreinschauen plötzlich ein Kameraobjektiv vors Gesicht gehalten wird – mit zufälligen Porträts von Unbekannten ist die Situation auch rechtlich schwierig. Menschen dürfen auf den Bildern gemeinhin nicht eindeutig erkennbar sein, wenn man die Fotos ins Netz stellen will – das untersagt der Datenschutz. Aber beim Abstandhalten sind wir mittlerweile ohnehin geübt. (Gini Brenner, 10.5.2021)