Es ist zwar vollkommen wurscht, der guten Form halber möchte ich aber eines festhalten: Es war nicht meine Idee. Mehr noch, ich habe es nicht nur nicht vorgeschlagen, sondern nicht einmal als Möglichkeit erwähnt. Weder das mit dem Laufen an sich noch die Teilnahme am World Run: Das kam ganz von selbst. Wenn Sie mich fragen, ich würde eher nicht empfehlen, vier oder fünf Wochen nachdem man (oder eben frau) das allererste Mal seit etlichen Jahren (quasi der Schulzeit) wieder gelaufen ist, beim Wings for Life World Run anzutreten.

Thomas Rottenberg

Nur fragt mich keiner. Im konkreten Fall keine. Aber im Nachhinein war das richtig so. Wenn sich die Eigendefinition danach von #begleitpony auf #proudboyfriend umstellt, ist erstens sowieso alles gut. Und zweitens gilt ja sowieso und in jedem Fall: Laufen muss jeder und jede selbst. Gerade wenn das Motto "Running For Those Who Can't" lautet.

Womit wir beim Thema wären.

Thomas Rottenberg

Der Wings for Life World Run (WFL) ist der wohl größte Charitylauf der Welt. Vergangenen Sonntag fand er zum mittlerweile achten Mal statt: Insgesamt 184.236 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 195 Nationen liefen in 151 Ländern da kumulierte 1.656.840,79 Kilometer. Die Startgelder aller TeilnehmerInnen gingen 1:1 an die Rückenmarksforschung. In Summe waren das 4,1 Millionen Euro.

Und das, obwohl der Lauf heuer nicht wie hier im Bild vom Start 2017 als "echter" Event stattfand, sondern lediglich als App-Run. Also als "virtueller Wettkampf", bei dem jede und jeder irgendwo und für sich allein unterwegs war (zumindest theoretisch – dazu später).

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Geschichten über den WFL gibt es mindestens so viele wie Läuferinnen und Läufer. Ich selbst habe auch schon einige erzählt. Von ganz vorne, etwa als ich WFL-Doppelsieger Lemawork Ketema ein Stück auf dem Rad begleitete.

Wichtiger war und ist mir aber die Geschichte, die ich 2017 schrieb: Damals wollte ich wissen, wer die Menschen sind, die bei diesem Lauf als Erste "im Ziel" sind. Denn beim Worldrun geht es darum, möglichst spät von einem sogenannten Catcher Car eingeholt zu werden: 30 Minuten nach dem Start fährt es langsam los, wird immer schneller und rollt das Feld von hinten auf. Während alle Welt auf jene schaut, die am längsten vor der sie verfolgenden Ziellinie davonlaufen können, wartete ich 2017 auf der Startlinie auf die Nachzügler. Und "lief" mit jenen Menschen, die das Catcher Car als Erste erwischen würde.

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Die Geschichten dort waren, zurückhaltend formuliert, berührend. Neben Hochschwangeren, Jugendlichen im Rollstuhl, die sich weigerten, Schiebehilfe anzunehmen, oder Gruppen mit Kleinkindern waren auch Personen unterwegs, die selbst schwer krank waren. Etwa jene MS-kranke Frau, die mit ihrer Tochter hier war – weil sie "noch einmal anderen helfen" wollte. Oder aber Helmut.

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Helmut war schwer übergewichtig. Er erzählte, dass er früher noch viel schwerer und unbeweglicher gewesen sei. Ausreden und Entschuldigungen (oder die mittlerweile gängigen Ausflüchte in angeblich politisch korrektes Dinge-nicht-aussprechen-Dürfen) suchte der ÖBB-Mitarbeiter nicht. Im Gegenteil: zu wenig Bewegung, zu viel vom falschen Futter und Rauchen. "Ich bin also selbst schuld." Das hatte ihn schon auf die Intensivstation gebracht. "Ich hab sogar wieder sitzen lernen müssen. Dass ich überhaupt mitgehen kann, ist für mich wie ein Wunder."

Helmuts Wunder dauerte 40 Minuten. Nach etwa zweieinhalb Kilometern holte uns das Catcher Car ein. Helmut war nassgeschwitzt und strahlte: So sehen Sieger aus. (Die MS-Kranke war knapp vor ihm überholt worden. Auch wenn Mutter und Tochter mir das Erzählen der Geschichte ausdrücklich erlaubt hatten: Ein Bild war ihnen zu privat.)

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Zurück in die Gegenwart. Die ohnehin nur vage Hoffnung, dass der Lauf eventuell doch als "echter" Event stattfinden können würde, hatten mir die Wings-for-Life-Köpfe Anita Gerhardter und Wolfgnag Illek schon abgeräumt, als ich sie Anfang Februar zufällig bei einer Spendenscheckübergabe durch Union-Präsident Peter McDonald am LAZ-Platz "ertappte".

Die Frage, ob ich "eh schon angemeldet" sei, war für mich schon da keine: Auch wenn es immer wieder Leute gibt, die die Nähe zwischen Red Bull und Wings for Life stört, habe ich damit kein Problem. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass kein "Regiekostenbeitrag" von den Startgeldern abgezogen wird, sondern das Drumherum vom Dosenkonzern getragen wird, passt für mich. Klar könnten die Mateschitze die lukrierte Spendensumme auch aus der Portokasse zahlen. Aber: Sinn einer Charity-Aktion ist auch, einem Thema durch den Beitrag, den jeder und jede leistet, Breite zu geben.

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Abgesehen davon sind virtuelle Rennen, also "App-Runs", aber elend und zach. Wobei die App-Variante des Worldruns auch etwas Gutes hat: Es kann wirklich jeder und jede bei dem sonst rasch ausverkauften Lauf mitlaufen. So können tatsächlich alle gleichzeitig losrennen: Bei den "Flagshipruns" – also den Massenläufen – war es für hinten startende "Normalos" oft ärgerlich, dass es bis zum Passieren der Startlinie einige Minuten dauerte. Die 30-minütige "Wartezeit" des Catcher Cars lief da schon.

(Drittens – das nebenbei – kann so ein in Österreich weltberühmter Mogler nicht mogeln: Der Gute tauchte beim WFL mehrmals in den Top 20 auf – nur hat ihn am Start oder auf den ersten 20 Kilometern nie jemand gesehen. Ein Schelm, wer behauptet, dass er wohl erst danach ins Rennen einstieg, da ihn da da facto nur die Ziellinie "erkennt": Per App getrackt geht Abkürzen und Spätereinsteigen nicht.)

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Nun aber wirklich zum diesjährigen Lauf. Ihn per App abzuhalten, um den im Freiluftsport zwar sinnfreien, aber eben immer noch gültigen Veranstaltungsverboten zu entsprechen, hatte einen Schönheitsfehler: Kann man bei anderen App-Runs in einem oft sogar mehrtägigen Zeitfenster starten, ist das beim WFL genau ein Zeitpunkt. Weltweit.

Und weil in Wien ehrgeiziges und schnelles Wettkampflaufen eine Adresse hat, ging es auf der Hauptallee schon eine Stunde vorab zu wie bei einem klassischen Wettkampf: Vereine stellten Versorgungstische auf. Schaulustige platzierten Sessel am Streckenrand. 15- und mehrköpfige Gruppen in Vereinsdressen stimmten sich ein. Eintraben im "Rudel": Es roch nach "alter Normalität".

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Nur Startbogen, Musik und Moderation fehlten: Da waren Menschenmassen – und wir wurden wegen unserer selbst ausgedruckten Startnummern sogar gefragt, "wo denn die Startnummernausgabe ist".

Klar, ich könnte mich auf meinen Job ausreden: Da muss und darf ich ja zuschauen gehen. Aber natürlich war ich genauso Teil des "Problems" wie alle anderen hier. Dass epidemiologisch angeblich nichts gegen gut organisierte Sportveranstaltungen im Freien spricht, ändert an der immer noch geltenden Rechtslage nichts: Die untersagt genau solche Zusammenkünfte nämlich.

Und ab Punkt 13 Uhr ging es dann auf der PHA (Prater-Hauptallee) genau so zu wie bei 1.001 ganz normalen, mittelgroßen Läufen: Pulk auf Pulk umrundete das Lusthaus und machte sich auf zur nächsten Runde.

Eh cool. Dieses Gefühl, diese Energie, dieses kollektive Lachen, diese Party mit Gleichgesinnten: Wie sehr habe ich das vermisst!

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Aber genau deshalb hatten wir anders geplant: Allee zum "Leuteschauen", aber dann beim Lusthaus in den unteren Prater und zur Donau. Ob wir zum Kraftwerk oder doch flussaufwärts laufen würden, würde sich unterwegs entscheiden.

Sonderlich originell war diese Idee zwar auch nicht. Aber am Weg zur Pagode (voll im Wind) und danach flussaufwärts trafen wir weit weniger "Worldrunner" als erwartet. Dieses Bild entstand zwar erst auf Höhe des Millenniumtowers, aber solche Momente gab es ständig und überall.

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Die Wende in den Rückenwind hatte ich eingeplant: Um beim WFL 15 Kilometer zu schaffen, sollte man eine Durchschnittspace von 6'07" laufen. Sechs Minuten und sieben Sekunden pro Kilometer. Das Halten einer vorab errechneten Durchschnitts-Wettkampfpace ist für routinierte Läuferinnen und Läufer in der Regel kein Problem: Man oder frau weiß aus 1.000 Trainingskilometern, wo Wohlfühl-, wo Abschießbereiche liegen – und kann einschätzen, wie lange welche Geschwindigkeit gut gehen wird und aus Tagesverfassung, Wind und Wetter ableiten, was heute drin ist. Man weiß, wann und ob der Körper in gewissen Laufphasen mehr oder weniger schafft.

Und weiß auch, dass immer etwas passieren kann, dass Unerwartet-Unplanbares das Projekt absticht.

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Wenn der Athlet oder die Athletin null Routine hat, sich noch nie mit Wettkampfstress auseinandergesetzt hat, nie mehr als zwölf Kilometer in lockerem Trab gelaufen ist und fast alle bisherigen Läufe bei eher frostigen Temperaturen stattfanden, heute aber plötzlich (hier: schattenloser) Hochsommer ist, wird es spannend.

Erst recht, wenn in der selbstgewählten Vorgabe von 15 Kilometern kein Tempo- oder Zeitpuffer steckt: Bei einem "normalen" Lauf verfehlt man dann eben die Zielzeit – kommt aber doch ins Ziel.

Aber beim Wings for Life Worldrun geht genau das nicht.

Thomas Rottenberg

Als "Begleitpony" wissen Sie das alles. Nur nutzt dieses Wissen dem oder der Begleiteten nichts: Er oder sie soll ja einfach nur laufen – alles andere, das Rechnen, das Planen, das Versorgen, das Tempomachen, -halten oder -veschärfen, ist Ihr Job.

Solange es locker dahingeht, ist das easy. Ungefähr zu Beginn des dritten Drittels sollten Sie dann aber genauer hinschauen und die Ohren spitzen: "Nein, ich will nix trinken", "Gel? Jetzt? Oida!" oder "Lass mich einfach in Ruhe" sind Signale – und wenn aus "Yeah!" dann "Passt eh" wird, auch. Bis hierher war es ein Spaziergang – jetzt beginnt (Bild 14) die Arbeit. Für alle Beteiligten.

Thomas Rottenberg

Was jetzt wichtig ist, ist Ablenkung. Nein, nicht "Entertainment": Für das "New Kids on the Block"-Denkmal (hinten im Bild) hat der Mensch neben Ihnen jetzt keinen Sinn. Auch Lob geht ins Leere – zumindest von Ihnen: Sie sind jetzt Blitzableiter, aber das wussten Sie vorher. Schließlich bin spätestens jetzt ich schuld, dass wir hier sind: Es ist brüllheiß, die Sonne sticht, Wind von hinten kühlt nicht und: "Du kannst das" oder "Schaut gut aus" widerspricht allem, was Kopf und Beine jemandem, der – also die – gerade am Limit unterwegs ist, jetzt signalisieren.

Thomas Rottenberg

Wer auf "Reserve" läuft, den oder die nervt alles: Da quäkt etwa die idiotische App permanent, dass das Catcher Car näher und näher kommt: "Ich bin nur noch einen Kilometer hinter dir!" Wäre Tom Walek, eine der App-Stimmen, in Reichweite, wäre er in latenter Watschengefahr: Dass man ähnliches App-Gequake sogar hier, am Treppelweg, auch aus den Handys anderer Leute hört, macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil.

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Und das Allergemeinste: Gleich neben dieser vermaledeiten Strecke (der Boden sieht nur trocken aus – tatsächlich ist das schwerer, sich an den Füßen festsaugender Schlamm!) chillen Leute. Sonnen sich. Picknicken am Wasser. Mit Hunden, Kindern und Freunden: Das Leben könnte so schön einfach und einfach schön sein – ganz besonders ohne diese blöde Rennerei.

Und jetzt faselt der Typ mit dem Rucksack auch noch was von "Gas geben" – und wird tatsächlich schneller. Was soll das?

Thomas Rottenberg

Aber dann die Erlösung. "Eingeholt, ich hab dich!", gröhlt das Handy. Endlich vorbei. Drei Schritte auslaufen. Stehenbleiben. "Ich fall gleich um." Nein, tust du nicht. Geh weiter. Bleib in Bewegung. Trink.

Wir sind irgendwo im Nirgendwo der oberen Donauinsel. Aber sogar jetzt kommen uns Menschen mit Startnummern und/oder WFL-Shirts entgegen. Grinsen, geben ein kurzes Thumbs up. Erst beim zweiten Blick fällt auf: Die meisten gehen. Sind also auch schon raus.

Ein Blick aufs Display. 15,4 Kilometer. "Echt jetzt?" Echt. "OMG."

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Natürlich sind viele andere viel weiter gekommen. Die Russin Nina Zarina legte mit der Siegerinnenstrecke von 61,1 Kilometern im Vergleich zu uns fast das Vierfache auf die Straße. Der Schwede Aron Anderson kam auf 66,8 km. In Österreich gewannen Margit Lazzeri (42,4 km) aus Salzburg und Wolfgang Wallner aus Niederösterreich (56,1 km). 15,4 Kilometer klingen da nicht nach viel. Sie sind es aber. Erinnern Sie sich an Ihren allerersten Wettkampf, die Nervosität, Anspannung und Unsicherheit. Und dann an das Gefühl im Ziel, als Sie spürten, was Sie gerade geschafft hatten. Aus eigener Kraft. Weil Sie es sich vorgenommen hatten. Obwohl es noch vor kurzem noch unmöglich schien. Weit außerhalb Ihrer Komfortzone war.

Erinnern Sie sich an diesen einen Moment und daran, was er mit Ihnen gemacht, was er Ihnen über das, was Sie draufhaben, über Sie selbst, erzählt hat: 15,4 Kilometer sind dann mehr als bloß eine Strecke. Weil es beim Laufen nicht nur ums Laufen geht. (Thomas Rottenberg, 11.5.2021)

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