Bild nicht mehr verfügbar.

Schon zum Mittagessen ein Glas Wein: Weil man in der Pandemie mehr zu Hause ist, werden Süchte offensichtlicher, beobachtet Sozialarbeiterin Ursula Zeisel.

Foto: getty images

Ursula Zeisel berät Suchtkranke und Angehörige.

Foto: Petra Halwachs

"Wir sind in einer Krise, und in Krisen neigen Menschen dazu, zu Suchtmitteln zu greifen. Viele haben ihre Arbeit verloren, haben finanzielle Sorgen oder sind einsam. Mit Alkohol oder anderen Suchtmitteln ist diese Situation leichter auszuhalten, leider zu 'ertragen'. Trotzdem würde ich sagen: Die wenigsten Menschen sind wegen der Pandemie süchtig geworden. Das ist aber natürlich nur meine Beobachtung. Was wir allerdings schon bemerken, ist, dass sich die Situation derjenigen, die es bereits sind, teilweise verschlimmert hat. Wer vorher schon mit mehreren Gläsern Wein entspannt hat, tut das jetzt vielleicht noch exzessiver. Gleichzeitig beobachten wir, dass eine Sucht für Angehörige auffälliger geworden ist. Viele merken erst jetzt, dass der Partner oder die Partnerin trinkt, weil man viel mehr Zeit zusammen zu Hause verbringt.

Die am häufigsten vorkommende Sucht ist die Sucht nach legalen Subtanzen, also Nikotin und Alkohol. Wann jemand tatsächlich süchtig ist, kann man so klar nicht sagen. Natürlich gibt es ungefähre Richtwerte, was die Trinkmenge betrifft, zum Beispiel von der Weltgesundheitsorganisation. Aber die allein reichen nicht aus, um eindeutige Aussagen zu treffen. Es geht bei einer Sucht ja auch um die Wirkung einer Substanz und wie sehr jemand darauf angewiesen ist. Wird sie grantig und aggressiv, wenn sie einen Tag abstinent ist? Kann er gar nicht mehr entspannen, ohne etwas zu trinken? Schläft sie schlecht ohne Alkohol?

Bei manchen gerät es außer Kontrolle – sie wollen das Gefühl, das der Alkohol bei ihnen erzeugt, immer und immer wieder haben. Eine Diagnose 'Suchterkrankung' stellen dann Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen, Psychologen oder Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

Sucht oder nicht?

Zu uns kommen, neben Betroffenen selbst, die Unterstützung suchen, auch Frauen und Männer, die sich Sorgen machen, dass ihr Partner oder ihre Partnerin süchtig ist. Wir haben auch ein eigenes Angebot für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren, bei denen ein Elternteil oder gar beide Elternteile abhängig sind. Für sie ist es natürlich besonders hart, wenn eine Sucht den Alltag bestimmt. Sie leiden sehr darunter, wenn Mama oder Papa regelmäßig berauscht sind, starke Stimmungsschwankungen haben und nicht mehr in der Lage sind, sich adäquat um sie zu kümmern. Auch Konfliktsituationen, die dann entstehen, sind für sie schwer zu ertragen. Eine Sucht ist noch eine zusätzliche Belastung neben all den Problemen, die die Pandemie für Familien ohnehin mit sich bringt.

Wir haben zurzeit auch mehr Anfragen von Eltern, die sich um ihre jugendlichen Kinder sorgen. Sie merken, dass ihre Tochter oder ihr Sohn regelmäßiger Alkohol trinkt, raucht oder zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt. Am häufigsten wird von Eltern eine Sucht nach Onlinespielen befürchtet. Aber nicht immer, wenn Eltern glauben, dass es eine Sucht ist, stimmt das auch. Oft ist es eher ein pädagogisches Problem. Dann kann es reichen, klare Regeln festzulegen und zum Beispiel festzuhalten, dass die Schule nicht leiden darf und einmal am Wochenende gemeinsam gegessen werden muss. Wenn jemand jedoch richtig reinkippt, alles andere wie Schlaf, Essen, Hobbys und Freunde vernachlässigt, wird es problematisch.

Unbedingt ansprechen

Wenn man vermutet, dass jemand in der Familie ein Suchtproblem hat, sollte man das unbedingt ansprechen. Denn häufig sagen Suchtkranke zu uns: 'Niemand hat etwas zu mir gesagt.' Darüber reden ist also auf jeden Fall die bessere Option, als gar nichts zu tun. Die Angst, dass das Problem dadurch größer wird, ist unberechtigt. Eine Möglichkeit ist, dem anderen seine Beobachtungen mitzuteilen und zum Beispiel zu sagen: 'Mir fällt auf, du bist nicht ganz da' oder 'Immer wenn wir uns sehen, bis du betrunken.' Damit zeigt man der Person, dass sie einem nicht egal ist. Und man zeigt ihr, dass ihre Sucht auffällt. Menschen mit einem Suchtproblem glauben oft, dass niemand etwas bemerkt. Wichtig wäre, sie oder ihn zu ermutigen, sich Hilfe zu holen. Man kann auch anbieten, gemeinsam in eine Beratung zu gehen.

In einer Behandlung geht es dann darum, herauszufinden, wie das Gefühl, das durch die Sucht erzeugt wird, irgendwie anders erzeugt werden kann. Wie kann sich jemand auf andere Art Selbstsicherheit holen, seine Beziehungen anders gestalten? Welche Dinge bietet das Leben noch, und was macht Freude? Außerdem wird der Betroffene dabei angeleitet, sich Risikosituationen bewusst zu machen. In unserer Gesellschaft ist Alkohol omnipräsent. Und wer nichts trinkt, wird in manchen Runden komisch angeschaut.

Das ist für Abhängige natürlich ein großes Problem. Sie können zum Beispiel nicht mehr in ihr Lieblingslokal gehen, weil sie dort immer Alkohol getrunken haben oder dort die Menschen sind, mit denen sie immer Alkohol trinken. Wie man gut durch diese Gefahrensituationen kommt, ohne rückfällig zu werden, ist Teil der Therapie. Entscheidend ist, dass jeder oder jede für sich einen Weg findet, mit dem Thema Alkohol – wieder – umgehen zu können." (Protokoll: Lisa Breit, 15.5.2021)