Die berühmte rosarote Brille ist eigentlich ein Streich, den uns unser Gehirn spielt. Hormone hemmen jene Regionen, die für Kritik verantwortlich sind – wir sehen nur die schönen Seiten des anderen. Aber das bleibt nicht lange so. Irgendwann kommt peu à peu die ganze Person zum Vorschein, und wir merken: Längst nicht alles an ihr ist toll. Was folgt, ist eine Abwärtsspirale: Uns stört immer mehr am anderen, wir entfernen uns voneinander, sind enttäuscht, streiten, und manches Mal kommt es sogar zur Trennung.

Die renommierten Paartherapeuten Sabine und Roland Bösel kennen diesen Verlauf der Dinge nur zu gut. Seit 30 Jahren beraten sie Paare in der Krise. Eine Beziehung ist wie ein Tetris-Spiel, sagen sie – ist eine Herausforderung bewältigt, kommt schon die nächste. Im Interview spricht das Therapeutenpaar darüber, wie Paare aus dem "Kampfmodus" herauskommen können. Sie erzählen von ihrem eigenen Kennenlernen – es war Liebe auf den zweiten Blick –, über ihre Hoch und Tiefs und darüber, wie es ist, wenn die Langzeitbeziehung plötzlich Konkurrenz bekommt. Sie erklären, warum Sehnsucht so qualvoll sein kann und was die Liebe mit dem Kauf eines Mantels gemeinsam hat.

STANDARD: Die amerikanische Ehe- und Paartherapeutin Liberty Kovacs beschreibt in ihrem Buch "Building a Reality-Based Relationship: The Six Stages of Modern Marriage" sechs Phasen einer Beziehung: Verliebtheit, Ernüchterung, Machtkampf, der Wunsch nach Trennung, die Versöhnung und dann die Akzeptanz. Läuft es wirklich immer so ab?

Roland Bösel: Eine Phase fehlt aus meiner Sicht: der Verlust der Nähe. Die Partner entfernen sich emotional voneinander. Sie fühlen sich weniger verbunden als anfangs, und das führt dann zur Ernüchterung. Wir haben diese Phase auch lange nicht explizit benannt, aber sie ist wichtig.

STANDARD: Dass ein Paar verliebt ist und diese Nähe gleich darauf wieder verliert, klingt für mich überraschend. Können Sie das erklären?

Roland Bösel: In der Verliebtheit legen Hormone gewisse Regionen im Gehirn still, die für kritische Wahrnehmung verantwortlich sind. Es ist wie eine Betäubung. Wir idealisieren einen Menschen, sehen nicht, was andere sehen, die nicht betäubt sind. Lässt die Verliebtheit nach, wachen wir schleichend aus dieser Betäubung auf. Wir beginnen, den Menschen als das zu sehen, was er ist, und nicht nur seine guten Eigenschaften. Dadurch fühlen wir uns nicht mehr so verbunden wie in der Anfangszeit. Viele fragen sich dann: Hab ich mich vielleicht in ihm geirrt? Ist das wirklich die Richtige?

Sabine Bösel: Das Interessante an der Verliebtheit ist: Wir haben die rosarote Brille auf, sehen also vor allem die positiven Seiten des anderen. Wenn es doch passiert, dass wir die negativen Seiten zu Gesicht bekommen, denken wir: Der wird sich schon noch aus Liebe zu mir ändern.

Roland Bösel: Die Sabine und ich glauben, dass sich die Introvertierten, wir nennen sie auch "Schildkröten", eher denken: Hoffentlich bleibt sie oder er so. Und die Extrovertierten, oder auch "Hagelstürme", denken sich: Der wird schon noch aus sich herauskommen. Um das zu verdeutlichen, ein Beispiel aus unserer Beziehung: Meine Frau hat mich von Anfang an sehr interessiert, sie war aber sexuell ein bisschen schüchtern. Ich dachte, dass sie schon Leidenschaft zeigen wird, wenn ich mich nur genug anstrenge.

Sabine Bösel: Und ich dachte: Der ist aber lieb und aufmerksam. Und er hört mir so gut zu! Hoffentlich bleibt er so.

Roland Bösel: Die Ernüchterung war dann, dass ich nicht so geblieben bin, sondern ihr Vorwürfe gemacht habe. Die Sabine dachte sich wiederum, sie sei schuld, weil sie etwas falsch gemacht hat. Und schon wollten wir uns trennen.

"Das Interessante an der Verliebtheit ist: Wir haben die rosarote Brille auf, sehen also vor allem die positiven Seiten des anderen. Wenn es doch passiert, dass wir die negativen Seiten zu Gesicht bekommen, denken wir: Der wird sich schon noch aus Liebe zu mir ändern", sagen Sabine und Roland Bösel.
Foto: Stefan Fürtbauer

STANDARD: Der Verlust der Nähe, die Ernüchterung markieren also das Ende der Verliebtheitsphase. Wie lange dauert Verliebtheit denn typischerweise an?

Sabine Bösel: Bis zu eineinhalb Jahre. Aber es gibt auch Paare, die sagen, dass der Zauber nach einer Woche vorbei war.

Roland Bösel: Es gibt auch Paare, bei denen läuft es nicht so typisch ab. Wie bei uns. Die Sabine und ich haben uns kennengelernt, uns angenähert – und dann wurde es relativ schnell kompliziert. Wir haben uns gedacht: Na, das kann ja nicht die Liebe sein, wenn es so schnell kompliziert wird, und haben uns aus den Augen verloren. Erst als wir uns wieder getroffen haben, ist die Verliebtheit so richtig eingefahren.

STANDARD: Es war also Liebe auf den zweiten Blick?

Roland Bösel: Ja. Rückblickend muss ich sagen, dass ich da wohl so eine Ahnung hatte. Als wir uns aus den Augen verloren hatten, hab ich die Sabine angerufen und wollte, dass wir uns noch einmal treffen. Aber sie meinte, sie glaubt, dass sie die Falsche für mich ist.

STANDARD: Aber dann hat sie doch eingewilligt?

Roland Bösel: Ich hatte zum Glück einen langen Atem, und irgendwann hat sie eingewilligt. Wir haben uns getroffen und waren verliebt. Es war eine tolle Zeit.

STANDARD: Es gibt da ein Zitat von Sigmund Freud, in dem er den Zustand der Verliebtheit mit einer Psychose vergleicht. Das klingt nicht sehr toll.

Roland Bösel: Ich würde sagen, Verliebtheit ist "die schönste Form der Psychose" – wenn man es so drastisch formulieren möchte. Denn Sie haben recht, eine Psychose an sich ist ja nichts Schönes. Aber an diesem Zitat sieht man sehr gut den Unterschied zwischen der Verliebtheit und den anderen Stufen einer Beziehung. Die Verliebtheit ist ein Ausnahmezustand. In den anderen Phasen entwickelt man ein Bewusstsein für das, was gut an der Beziehung ist, und für das, was nicht passt. Und im Idealfall entwickelt man sich zusammen weiter, die Beziehung reift.

STANDARD: Nun gibt es Beziehungen, die aufgrund der Umstände nicht weitergehen können, etwa eine Urlaubsliebe. Diese Beziehungen werden oft noch Jahre später idealisiert. Weil sie nie die Gelegenheit hatten, zu scheitern?

Sabine Bösel: Genau. Die Beziehung ist nie auf dem Boden der Realität gelandet, die Ernüchterung ist nie eingetreten. Man kann sich ohne Einschränkungen ausmalen, wie toll das Ganze nicht gewesen wäre.

Roland Bösel: Mir fallen dutzende Paare ein, bei denen einer von beiden seine Jugendliebe wiedergetroffen und sich deshalb getrennt hat. Damals ist vielleicht nichts gelaufen, aber als sie den Menschen wiedergetroffen haben, dachten sie: Das ist die Liebe meines Lebens. Eine solche Verliebtheit ist konkurrenzlos, weil die Beziehung nie einen Test erfahren hat. Das Fazit aus dem Ganzen: Mein größerer Konkurrent wäre die Jugendliebe meiner Frau. Ein Mann, den sie zwar kennengelernt hat, aber nie gut genug, um auch seine Schattenseiten zu erkennen.

STANDARD: Ein prominentes Beispiel ist Albert Camus, der sich 1944 in die Schauspielerin Maria Casarès verliebte. Es ist ein "coup de foudre", aber Camus ist verheiratet, und sie vereinbaren, dass ihre Liebe nur bis zum Ende des Krieges dauern soll. Sie treffen einander zwar wieder, aber kurz darauf stirbt Camus. Sie schrieben dutzende Briefe, die sehr sehnsuchtsvoll klingen, beinahe quälend.

Roland Bösel: Sehnsucht ist etwas Schönes – und gleichzeitig Gift fürs Leben. Weil die Sehnsucht ein bodenloses Gefühl ist. Wir Menschen müssen nach einer aufregenden Phase immer zurück auf den Boden kommen. Wenn man ständig verliebt ist, ist es so, als würde man nicht mehr schlafen, weil das Leben zu aufregend ist. Unser Gehirn braucht auch wieder die Entspannung.

Sabine Bösel: Darum haben die Ehepartner ja bei einer Affäre oft wenig Chancen. Man turtelt herum und der Partner zu Hause, mit der schmutzigen Wäsche und dem kranken Kind, erscheint dagegen wenig attraktiv.

Roland Bösel: Deshalb hat meine Frau, als ich vor einigen Jahren eine Affäre hatte, gesagt: Ich lasse dir Zeit. Ich weiß nicht, wie lange, aber ich möchte dich zurück. Hätte sie gesagt: Du musst dich morgen entscheiden – ich wüsste nicht, wie ich mich entschieden hätte.

STANDARD: Das ist sehr stark!

Roland Bösel: Und sehr klug.

Sabine Bösel: Mir war damals gar nicht bewusst, wie klug ich da gerade bin.

STANDARD: Auf die Verliebtheit folgt erstmal der Verlust der Nähe und dann die Ernüchterung. Man erkennt, dass der Partner doch nicht so perfekt ist, merkt, was alles nicht passt, und Streitigkeiten kommen auf. Ist das die Phase, in der Paare normalerweise zu Ihnen kommen?

Roland Bösel: Nein, eher, wenn sie dann schon in der nächsten Phase, dem Machtkampf, sind. Denn die Ernüchterung tritt ja oft schon sehr früh ein, und einige Paare lassen es dann oft gleich bleiben. Andere denken sich: Das wird schon wieder, sie heiraten, bekommen ein Kind. Aber die Beziehung wird dadurch nicht besser, sondern im Gegenteil: Es gibt immer mehr Streit.

STANDARD: Worum geht es in den Konflikten?

Sabine Bösel: Die Themen sind ganz unterschiedlich. Heute waren zum Beispiel ein Mann und eine Frau bei uns, die darüber streiten, ob sie umziehen sollen oder nicht. Er meint, dass man die Wohnung ja noch irgendwie renovieren könnte, aber sie will unbedingt umziehen, am besten sofort. Das ist ein beinharter Machtkampf zwischen den beiden, in dem alle Mittel zum Einsatz kommen – vom Anschweigen bis hin zum Schimpfen und sogar Schreien. Die Themen der Konflikte sind austauschbar, aber es ist immer so, dass der eine sich auf einen Standpunkt eingeschossen hat und der andere auf einen anderen.

STANDARD: Wie kommen Paare da raus?

Sabine Bösel: Wir sagen immer, dass sie ihre Stirnlappen einschalten sollen. Das sind die Bereiche im Gehirn, die es uns Menschen ermöglichen, Empathie zu zeigen, Perspektiven zu ändern, kreativ zu sein. Sie ermöglichen uns, in Ruhe zu reden, anstatt gleich in den Kampfmodus zu schalten und mit Prügeln auf den anderen einzuschlagen, damit er endlich das macht, was man möchte. Die Stirnlappen einschalten bedeutet auch, dass man die Realität des anderen zu verstehen versucht. Der nächste Schritt wäre dann, gemeinsam eine Lösung für das Problem zu finden, auf Augenhöhe, als Erwachsene. Und nicht wie trotzige Kinder.

Roland Bösel: Ein schönes Bild ist auch der Kinoblick. Wir laden die Paare ein: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Kino und schauen sich den Film Ihrer Beziehung an. Schauen Sie nicht nur auf das, was Ihre Frau oder Ihr Mann tut, sondern achten Sie darauf, ob Sie sich vielleicht auch hin und wieder komisch verhalten. Da merkt vielleicht der eine, dass er schon manchmal sehr vorwurfsvoll ist, oder der andere, dass er sich meistens zurückzieht, wenn es Differenzen gibt. Ich liebe diese Momente! Denn so eine Selbsteinsicht bringt sehr viel Nähe. Es sind immer zwei für einen Konflikt verantwortlich, auch wenn das die wenigsten hören wollen.

Sabine Bösel: Das, was Roland da gesagt hat, ist ein wichtiger Punkt: Es ist wichtig, zu verstehen, dass nicht einer allein schuld ist, sondern beide verantwortlich sind. Und sich dann zusammen zu entscheiden, gemeinsam eine Lösung zu finden. Dabei geht es darum, dem anderen wirklich zuzuhören, wirklich zu verstehen, was seine Not ist.

Roland Bösel: Das ist viel besser, als den anderen anzuschreien: "Stimmt überhaupt nicht!" Bei uns führt das nur dazu, dass ich herumschreie und die Sabine sich in ein Zimmer zurückzieht.

STANDARD: Gibt es denn auch Paare, die Ernüchterung und Kampf auslassen? Die so friedvolle Naturen sind, dass sie direkt in die Phase der tiefen Verbundenheit kommen?

Roland Bösel: Wir kennen solche Paare nicht.

STANDARD: Stimmt es, dass wahre Liebe erst beginnen kann, wenn die Verliebtheit vorbei ist?

Roland Bösel: Ja, das stimmt. Denn wie wir schon festgestellt haben, ist Verliebtheit wie eine schöne Psychose. Wir sind euphorisch, unsere besten Seiten kommen zum Vorschein. In der Verliebtheit kenne ich den anderen gar nicht richtig, ich sehen nur eine geschönte Seite. Ich würde es jedoch nicht wahre Liebe nennen, ich würde es "reife" Liebe nennen.

Sabine Bösel: Für mich ist die reife Liebe, damit umgehen zu können, wenn einen der andere auf die Palme bringt oder seine Marotten auspackt.

Roland Bösel: Reife Liebe ist harte Arbeit. Wir glauben oft, wir können uns im Katalog "den Peter" oder "die Susi" aussuchen und werden mit ihm oder ihr auf ewig glücklich sein. Und wenn nicht, dann nehmen wir eben die Karin oder den Andreas. Das ist der einfache Weg, der aber wahrscheinlich nicht zu einer langen, glücklichen Beziehung führen wird. Für die reife Liebe muss ein Paar den Umgang miteinander lernen, und das kann Jahre oder Jahrzehnte dauern.

Ein Beispiel aus unserer Beziehung: Gestern hatten wir einen wirklich schönen Abend. Dann hat meine Frau einen Satz gesagt, und innerhalb einer Millisekunde war ich schlecht drauf und eingeschnappt. Was ich aber mittlerweile kann, ist, zu sagen: "Bitte gib mir eine Minute. Ich bin da gerade in ein Gefühl reingeraten." Hätte sie weitergepenzt, hätten wir uns sicher gestritten. Meine Frau hat mir also Zeit gelassen, jeder hat etwas für sich gemacht und so konnten wir wieder auf eine neutrale Ebene kommen. Vor dem Einschlafen hat sie mir dann über den Rücken gestreichelt und liebe Sachen zu mir gesagt. Das ist ein Stück Reife, die wir uns hart erarbeitet haben.

STANDARD: Hat man irgendwann genug gearbeitet? Ist man irgendwann am Ende angelangt?

Roland Bösel: Liebe ist wie Tetris. Wenn Sie einen Block abgearbeitet haben, rutscht von oben der nächste nach. Das Fließband des Lebens bringt ständige Herausforderungen. Ich wüsste nicht, dass das aufhört. Wir raten auf jeden Fall zum Dranbleiben. Das bedeutet, eigene Schrullen zu reflektieren und den anderen auf seine aufmerksam zu machen. Und zwar nicht, indem man rumnörgelt, sondern indem man wie ein Erwachsener anspricht, wenn einen was nervt. Zum Beispiel, indem man sagt: "Wenn du andauernd zu spät kommst, verletzt mich das. Wenn wir ins Theater gehen, möchte ich, dass du zehn Minuten vorher entspannt dort bist und sagst: Hallo Liebling, gehen wir rein?"

Sabine Bösel: Das Tolle ist: Beziehung ist ein Laboratorium zur Schaffung von zwei reifen Menschen. Wenn beide dranbleiben wollen, ist viel möglich. Es gibt keine Garantie, es ist auch manchmal trotzdem zu wenig, um zusammenzubleiben, aber es zumindest versucht zu haben ist wertvoll. Wenn ich zwanzig Jahre mit einem Mann zusammen bin, ist das von meinem Erwachsenenleben vielleicht schon die Hälfte. Wenn ich das einfach wegschmeiße und sage: Das ist nix, das war alles für die Katz, dann nehme ich mich ja selbst nicht ernst.

STANDARD: Bei Hochzeiten vergleichen Standesbeamte Beziehungen oftmals mit einer Pflanze, die gegossen werden muss, oder einem Haus, bei dem nur das Fundament gebaut ist – und weiterzubauen sei die Aufgabe des Paares. Kitschig, aber wahr?

Roland Bösel: Wir vergleichen Beziehungen gerne mit dem Kaufen und Tragen eines Mantels. Man will sich einen schönen Mantel kaufen – ein Sinnbild für die Partnersuche –, sieht in der Auslage eines Geschäfts zehn Mäntel und denkt sich bei einem: Der schaut super aus. Die Farbe spricht einen an, die Größe könnte passen. So ist es ja auch in der Liebe: Man sieht einen Menschen und denkt sich, dass er zu einem passen könnte. Man geht also ins Geschäft und probiert den Mantel an. Das Probieren ist wie eine erste Verliebtheit – das Tragen des Mantels ist dann der Rest des Lebens. Vielleicht ist er nicht so, wie man ihn sich ausgemalt hat. Das Material ist rau, der Schnitt nicht optimal, aber er hält einen schön warm. (Lisa Breit, 28.5.2021)