Neben den teils spektakulären Wanderbewegungen vieler Tierarten zu bestimmten Zeiten, wie etwa dem Vogelzug, gibt es auch weniger beachtete, aber nicht minder wichtige und oft weiträumige Bewegungen: Vor allem große Pflanzenfresser müssen auf der Suche nach Wasser und Nahrung oft immense Strecken zurücklegen.

Solche Wanderungen werden jedoch durch menschliche Aktivitäten zusehends eingeschränkt, was fatale Auswirkungen auf die betroffenen Arten hat. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, arbeitet ein internationales Konsortium von knapp 100 Wissenschaftern und Artenschützern an einem globalen Atlas der Tierwanderungen, wie das Fachjournal "Science" berichtet.

Kulane, die zu den Asiatischen Wildeseln gehören, durchstreifen in der Mongolei jedes Jahr riesige Areale. Doch unfragmentierte Landschaften werden immer rarer.
Foto: Petra Kaczensky

Viele große Pflanzenfresser leben in Steppen, also trockenen, weitgehend baumlosen Graslandschaften. Da Pflanzen verhältnismäßig wenig Nährstoffe enthalten und je nach Saison und Pflanzenart einen unterschiedlichen Nährstoffgehalt aufweisen, brauchen die Tiere zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Gegenden große Mengen davon, um ihren Nahrungsbedarf zu decken. Dementsprechend benötigen sie viel Fläche, um die besten Weidegründe zu finden und satt zu werden – dafür müssen sie weit umherstreifen.

Veterinärzäune

Zusammenhängende Steppengebiete werden jedoch rar, wobei diese Entwicklung in manchen Gebieten schon frühzeitig einsetzte: So gehören die Millionen Tiere umfassenden Herden von Springböcken, die einst durch die Karoo-Halbwüste in Südafrika streiften, bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Vergangenheit an. Die größten Herden bestehen heute aus etwa 1500 Tieren – ein Rückgang, für den neben Jagd und Krankheiten auch Zäune verantwortlich waren, die sie von Weideflächen fernhielten.

Die Tendenz setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Im südlichen Afrika werden die Wanderungen zahlreicher Arten seit den 1950er- und 1960er-Jahren durch Veterinärzäune eingeschränkt: Das sind Zäune zur Trennung von Gebieten, die vor allem als frei von Maul- und Klauenseuche eingestuft werden, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Sie wurden errichtet, um in erster Linie den EU-Richtlinien für Exportrindfleisch zu genügen. Allein in Botswana verendeten hunderttausende Gnus aufgrund dieser Strukturen.

Zerteilte Populationen

Eine auf der russischen Halbinsel Kola in den 1950er-Jahren errichtete Bahnlinie zerteilte das Gebiet der dort ansässigen Rentier-Population und schränkte deren ursprünglich ausgedehnte Wanderungen massiv ein. Auch unsere heimischen Hirsche und Rehe haben vor allem im Winter damit zu kämpfen, dass sie bei ungünstigen Bedingungen durch Straßen und Bauten daran gehindert werden, in bessere Areale auszuweichen.

Video zur Global Initiative on Ungulate Migrations.
Wyoming Migration Initiative

Wie weit die Strecken sind, die die Tiere auf ihren Wanderungen zurücklegen, wurde in manchen Fällen erst in den letzten Jahren dank neuer Technologien sichtbar: So stellte sich 2014 mithilfe von GPS-Monitoring heraus, dass Zebras in Tansania 500 Kilometer weit wandern und Weißohr-Moorantilopen in Äthiopien jährliche Runden von 860 Kilometer Länge ziehen.

Umtriebige Wildtiere

Als besonders umtriebig haben sich Kulane, das sind Asiatische Wildesel, in der Wüste Gobi erwiesen: Petra Kaczensky, die am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien und einer norwegischen Universität tätig ist und sich ebenfalls an der Atlas-Initiative beteiligt, besenderte mit einem Team mehr als 80 Wildesel in der Mongolei: Innerhalb nur eines Jahres durchstreiften viele der Tiere Areale von bis zu 80.000 Quadratkilometern, was fast der Größe Österreichs entspricht. "Damit stellt ihr Flächenbedarf sogar die bekannten Wanderungen von Gnus und Zebras über das 25.000 Quadratmeter große Serengeti-Mara-Ökosystem in den Schatten", sagt Kaczensky.

Die für ihr Nomadenleben nötige Fläche finden große Huftiere immer seltener. Auch die unfragmentierten Steppenlandschaften der Gobi in der Mongolei sind beständig am Schrumpfen, vor allem durch zahlreiche Bergbau- und Infrastrukturprojekte. Gleichzeitig werden in dem Gebiet immer mehr Nutztiere gehalten, die mit den Wildtieren um Nahrung und Wasser konkurrieren, während der Klimawandel die Situation mit häufigeren Dürreperioden weiter verschärft.

"Wenn man jetzt nicht aktiv auf wandernde Arten Rücksicht nimmt, werden deren Wanderbewegungen in kürzester Zeit von Eisenbahntrassen, Straßen und Zäunen zerschnitten sein, was das Ende dieser Tierwanderungen bedeutet", erläutert Kaczensky.

Geschützte Korridore

Der eben begonnene Atlas, der unter der Schirmherrschaft der Bonner Konvention zum Schutz wandernder Arten steht, soll auch eine Basis dafür bieten, die Wanderkorridore verschiedenster Huftiere bei Infrastrukturplanungen entsprechend zu berücksichtigen.

Dass das möglich ist, zeigt etwa der Path of the Pronghorn (Weg der Gabelböcke) in den USA: Die traditionelle Wanderroute der gazellenartigen Gabelböcke zwischen ihrem Sommerrevier im Grand-Teton-Nationalpark und ihrem Überwinterungsgebiet etwa 100 Kilometer südlich davon war an mehreren Stellen in Gefahr, durch Straßen, Zäune und andere Bauten dauerhaft unterbrochen zu werden. Mit Grundkäufen und Aufklärungsarbeit gelang es 2008, die Route unter Schutz zu stellen.

In Kasachstan wurde ein geschützter Korridor für die Wanderungen der dortigen Saiga-Antilopen etabliert, und in einigen afrikanischen Staaten wurden in den letzten Jahren unter anderem Abkommen zum Schutz der Wanderrouten von Gnus, Büffeln, Zebras und Elefanten geschlossen.

Hochgezogene Zäune

Eine positive Rolle könnten in der Zukunft internationale Geldgeber spielen: "Wünschenswert wäre, wenn wir die großen Entwicklungsbanken dafür gewinnen könnten, den Schutz von Wanderkorridoren explizit in ihre Statuten aufzunehmen und keine Projekte zu finanzieren, die dieses Anliegen gefährden", hofft Kaczensky.

Aber auch in Europa werden wieder mehr Zäune hochgezogen – auch in den Köpfen: "Krankheiten wie Covid-19 und die Schweinepest haben dazu geführt, dass viele Menschen Landschaftsvernetzung plötzlich wieder negativ sehen und vergessen, dass die Wanderungen für viele Arten überlebenswichtig sind", zeigt sich Kaczensky besorgt.

"Wir haben in Europa in den letzten Jahrzehnten viel Geld ausgegeben, um Grenzen abzubauen, Grünbrücken zu errichten und Wildtierkorridore für die Tiere wieder nutzbar zu machen – das sollten wir nicht aufs Spiel setzen." Schätzungen gehen davon aus, dass wir bis zum Jahr 2050 weltweit 25 Millionen Kilometer an neuen Straßen bauen werden. Der Atlas tut also dringend not. (Susanne Strnadl, 12.5.2021)