Polizisten und Zivilisten mit weißen Hemden in Cali, 9. Mai 2021.

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Trauerveranstaltung für getötete Demonstranten, Cali, 3. Mai. Kurz darauf eröffnete die Polizei das Feuer.

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Die Minga auf dem Weg durch Cali, 5. Mai.

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Am Dienstag machten sich weitere Indigene auf den Weg nach Cali.

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Polizeifahrzeug mit "Venom"-Mehrfachgranatwerfer.

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Seit zwei Wochen kommt Kolumbien nicht zur Ruhe. Die Proteste, die sich ursprünglich gegen die Steuererhöhungen Präsident Iván Duques gerichtet hatten, legten weite Landesteile lahm. Demonstrierende Indigene haben die Zufahrtswege in die Millionenstadt Cali im Südwesten des Landes blockiert und lassen nur Lastwagen durch, die überlebenswichtige Güter transportieren, mittlerweile wird der Treibstoff knapp.

Ihr Hauptquartier hat die Minga, wie die Indigenenversammlung genannt wird, auf dem Campus der renommierten Universidad del Valle im Süden der Stadt, wo auch viele wohlhabende Kolumbianer wohnen, aufgeschlagen. Anrainer berichten, dass Demonstranten ein geparktes Auto angezündet hätten, Wirtschaftstreibende verlangen, dass die Polizei die Barrikaden räumt.

Polizei sieht zu

Am Wochenende griffen dann Männer in Jeans und weißen Hemden, die aus teuren Geländewagen stiegen, die Indigenen an. Mit Mobiltelefonen aufgenommene Videos zeigen, dass die Polizei die Bewaffneten unbehelligt lässt.

Der Abgeordnete John Jairo Hoyos, der die Auseinandersetzungen beobachtete, sagte zu BBC Mundo, dass sich die Männer in Weiß als besorgte Anrainer ausgegeben hätten, die versuchten, ihr Eigentum vor den Demonstranten zu schützen. Allerdings hätten ihm mehrere Bewohner des Viertels erklärt, die Männer nie zuvor gesehen zu haben.

Auch Calis Bürgermeister Jorge Iván Ospina bestätigte, dass die Weißgekleideten das Feuer eröffnet hatten. Er wisse aber nicht, wer die Bewaffneten seien, weswegen er auch nicht mit ihnen verhandeln könne.

Blutspuren im weißen Lastwagen

Am Donnerstag griffen 17 Männer in Zivilkleidung, die aus einem weißen Lastwagen stiegen, an der Portada al Mar im Westen der Stadt Demonstranten mit Gummi- und Plastikgeschoßen an. Mindestens drei Menschen wurden verletzt, einer schwer. Als die Protestierenden das Fahrzeug durchsuchten, fanden sie Polizeiausrüstung.

Mittlerweile hat die Polizei nach anfänglichen Dementi zugegeben, dass die Angreifer zu den Sicherheitskräften gehörten. Natalia González Arce, Untersekretärin für Menschenrechte der Stadt Cali, fand im Laderaum Blutspuren, berichtet das Nachrichtenportal des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat.

Für Sicherheitsexpertin Katherine Aguirre vom Igarape-Institut in Cali sind gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Zivilisten der bisher besorgniserregendste Aspekt der Krise, die Kolumbien durchlebt: "Hier muss der Staat innovative Wege finden, um einerseits die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, andererseits aber weiterhin im Dialog mit den Beteiligten zu bleiben", sagte sie dem "Guardian".

Hubschrauber gegen Trauerveranstaltung

Die Proteste in Cali eskalierten, nachdem die Polizei am 3. Mai das Feuer auf eine Trauerveranstaltung für getötete Demonstranten eröffnet hatte. Die Mahnwache verlief friedlich, bis ein Hubschrauber auftauchte, der aus Lautsprechern die Nationalhymne abspielte und einen Suchscheinwerfer über die Menge streifen ließ. Dann erschossen vermummte Polizisten und Soldaten mehrere Menschen, berichtet die BBC unter Berufung auf Teilnehmer.

Über tausend Festnahmen

Menschenrechtsorganisationen berichten von über tausend Festnahmen, viele sollen in Gefangenschaft gefoltert worden sein. Am Dienstag wurde der 37-jährige Lucas Villa für tot erklärt. Der Yogalehrer aus Pereira, der durch seinen eigenwilligen Tanzstil einige Bekanntheit erlangt hatte, war aus einem vorbeifahrenden Auto beschossen und mit acht Schussverletzungen ins Spital eingeliefert worden.

Bei den Protesten sind offiziellen Angaben zufolge 46 Demonstranten, davon 35 in Cali, und ein Polizist ums Leben gekommen. Bisher wurde gegen drei Polizisten Mordanklage erhoben.

Polizei untersteht dem Verteidigungsministerium

Die "New York Times" spricht unter Berufung auf zahlreiche Interviews mit Protestierenden von bürgerkriegsähnlichen Zuständen. So hätten Polizisten einem 29-jährigen Demonstranten angedroht, ihm die Zähne einzuschlagen, wenn er sich weigere, ihren Urin zu trinken.

Ex-Polizeikommandant Óscar Naranjo sagte der US-Zeitung, die Sicherheitsbehörden befänden sich trotz des 2016 unterzeichneten Friedensvertraqs mit der Farc-Guerilla weiter im Kriegszustand. Die 140.000 Mann starke kolumbianische Polizei ist immer noch dem Verteidigungsministerium unterstellt und setzt regelmäßig Schusswaffen gegen Protestierende ein.

Präsident Iván Duque, der im Mai 2021 die Wiederwahl anstrebt, begab sich am Montag nach Cali, nachdem er sich lange geweigert hatte, mit den Demonstrierenden dort zu verhandeln. Er versprach dort, dass die öffentlichen Hochschulen Studenten aus einkommensschwachen Familien im Herbstsemester die Studiengebühren erlassen werden.

Twitter löscht Uribe wegen Gewaltverherrlichung

Duque sprach in Cali von einem "Pakt für die Jugend", verlangte aber, dass die Barrikaden geräumt werden müssten, bevor er den Rückzug der Polizei anordnet. Duques politischer Ziehvater, Ex-Präsident Álvaro Uribe, hatte zu Beginn der Proteste auf dem Kurznachrichtendienst Twitter betont, Soldaten und Polizisten hätten das Recht, ihre Waffen gegen "kriminelle Aktionen des vandalischen Terrorismus" einzusetzen, um "ihre Unversehrtheit, die Menschen und deren Besitztümer" zu schützen. Der US-Anbieter löschte den Tweet wegen Gewaltverherrlichung, der oppositionelle Senator Ivan Cepeda will Uribe nun deswegen vor Gericht bringen.

Kritik an Werfereinsatz

Kolumbiens Polizei setzt gegen Demonstrierende "Venom"-Granatwerfer des US-Herstellers Combined Systems ein, die in einer Salve bis zu 30 Rauch-, Reizgas- oder Schockgranaten verschießen. José Miguel Vivanco, Amerika-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, verurteilt den Einsatz des Waffensystems.

Die 500 Gramm schweren Geschoße fliegen bis zu 150 Meter weit und können schwere Verletzungen bewirken, wenn sie in flachem Winkel abgefeuert werden.

Protest auch aus der EU

Zwölf Abgeordnete des Deutschen Bundestags verurteilten in einem offenen Brief den exzessiven Einsatz von Gewalt gegen friedliche Protestierende, Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, erklärte, dass das Recht auf friedlichen Protest "respektiert und geschützt" werden müsse. Für Mittwoch ist ein landesweiter Streik geplant. (Bert Eder, 13.5.2021)