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Ein Polizist vor dem Institut für Virologie in Wuhan am Tag des Besuchs durch die Expertenkommission im Februar 2021.

AP / Ng Han Guan

Es ist mittlerweile gut eineinhalb Jahre her, dass Sars-CoV-2 höchstwahrscheinlich irgendwo in China von einem Tier auf einen Menschen übersprang und diesen zum sogenannten Indexpatienten machte, also dem Patienten null. Doch wie und wo genau das passierte, ist trotz vielfältiger Bemühungen – etwa der Untersuchung von nicht weniger als 80.000 Tieren in China – nach wie vor unklar. Auch eine von der WHO und China organisierte Recherche von internationalen und lokalen Expertinnen und Experten in Wuhan hat im Februar wenig Licht ins Dunkel gebracht.

Das Einzige, was ziemlich sicher ist: Die ursprünglichen Wirte des Virus sind Hufeisennasen, eine Familie aus der Ordnung der Fledertiere. Doch ab hier beginnen die Spekulationen. Während der im März mit Verspätung veröffentlichte Expertenbericht der WHO ohne konkrete Beweise eindeutig die These des natürlichen Ursprungs favorisiert (von Fledermaus direkt auf Mensch oder mittels Zwischenwirt), gibt es eine Reihe an mehr oder weniger prominenten Unterstützern der Laborthese.

Schematische Darstellung der drei möglichen Ursprünge von Sars-CoV-2. A: von Fledermaus zu Mensch, B: von Fledermaus über Zwischenwirt zu Mensch, C: von Fledermaus über genetische Veränderung und/oder sogenannte Gain-of-Function-Forschung zu Mensch (durch einen Laborunfall). (Quelle: "Should we discount the laboratory origin of COVID-19?")
Grafik: Rossana Segreto et al., Environmental Chemistry Letters 2021

Deren Anhänger sind mitunter auch völlig fachfremd – wie der deutsche Nanowissenschafter Roland Wiesendanger. Der vielfach ausgezeichnete Physiker präsentierte im Februar seine als "Studie" bezeichnete Sammlung von Indizien und erzielte damit einiges mediales Aufsehen. Konkrete Beweise lieferte konnte seine eher amateurhaft zusammengetragene Kompilation aber nicht liefern.

Etwas abseitiger Publikationsort

Der jüngste Versuch, der Laborthese mehr Plausibilität zu verleihen, stammt vom US-Wissenschaftsjournalisten Nicholas Wade, erschien vor wenigen Tagen im "Bulletin of the Atomic Scientists" und liest sich überzeugender als Wiesendangers Opus. Zwar ist das "Bulletin" auch kein einschlägiges virologisches Fachjournal. Es beschäftigt sich aber regelmäßig mit Fragen der Biosicherheit und hat sich in der Frage des Virus-Ursprungs mehrfach gegen die WHO gestellt.

Entsprechend liefert der Text des erfahrenen Wissenschaftsautors Wade, der lange als Journalist für die "New York Times" arbeitete und für sein umstrittenes Buch "A Troublesome Inheritance" (2014) heftig kritisiert wurde, vor allem Indizien, die auf riskante Forschungen am Institut für Virologie Wuhan sowie mangelnde Sicherheitsmaßnahmen hindeuten. Einiges ist relativ neu, "Smoking Gun" ist indes keine dabei, was der 78-Jährige auch offen zugibt. Die dichte Argumentationskette seines umfangreichen Textes (Lesezeit etwa 45 Minuten) ist aber über weite Strecken gut abgesichert und klingt in vielen Passagen plausibel.

Gain-of-Function-Forschung

Wades Hauptindiz ist, dass es am Institut für Virologie Wuhan vermutlich Gain-of-Function-Forschung mit Corona-Viren gegeben hat, und zwar bis unmittelbar vor Beginn der Pandemie. Darunter versteht man riskante (und deshalb auch umstrittene) Experimente, bei denen Krankheitserreger genetisch oder durch bestimmte Tierversuche so manipuliert werden, dass sie Menschen angreifen können. Dadurch will man ihre Interaktion mit menschlichen Wirten besser verstehen und Gegenmaßnahmen etwa in Form von Impfungen vorbereiten.

Genau solche Forschung sei von der Virologin Shi Szengli (der sogenannten "Fledermausfrau") am Institut für Virologie Wuhan betrieben worden, und zwar auch mit wissenschaftlicher Unterstützung der USA, wie Wade argumentiert. Und er fördert auch noch ein anderes (wie sich zeigen wird: vermeintliches) Indiz ans Tageslicht: Diese Experimente seien von 2014 bis 2019 von der gemeinnützigen Eco Health Alliance über Forschungsprojekte beim National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) der USA bezuschusst wurden, das wiederum zu den National Institutes of Health (NIH) gehört.

Umstrittene Rolle von Peter Daszak

Ein nicht völlig unwesentliches Detail am Rande und in Wades Argumentation: Präsident der Eco Health Alliance ist der Zoonosen-Spezialist Peter Daszak, der von Anfang an und bis heute einer der vehementesten Gegner der Laborthese war und ist, zugleich aber auch dem Expertenteam der WHO angehörte, das Wuhan bereiste.

Daszak wiederum beschrieb Anfang Dezember 2019 (und damit nur wenige Tage vor Bekanntwerden von Sars-CoV-2) bei einem Interview in Singapur diese Forschungen an Coronaviren (ab Minute 28) unter anderem mit diesen Worten, die auch Wade zitiert:

Vincent Racaniello

"Wir haben jetzt, nach sechs oder sieben Jahren dieser Arbeit, über 100 neue Sars-verwandte Coronaviren gefunden. Einige von ihnen gelangen im Labor in menschliche Zellen, einige von ihnen können in 'vermenschlichten' Mäusemodellen die Sars-Krankheit auslösen, sind mit monoklonalen Antikörpern nicht behandelbar, und man kann auch nicht mit einem Impfstoff gegen sie impfen. Diese sind also eine klare und gegenwärtige Gefahr." Ab Minute 30 geht es dann um die leichte genetische Manipulierbarkeit dieser Viren.

All das Gesagte beweist auch nicht allzu viel – außer dass Daszak ein Fachmann ist.

Zudem versucht Wade unter anderem zu belegen, dass diese Gain-of-Function-Forschungen mit Coronaviren am Institut für Virologie Wuhan vermutlich nicht unter der höchsten Biologischen Schutzstufe (BSL) 4, sondern nur unter BSL 2 oder 3 stattfanden. Dazu rekapituliert er einige frühere Laborunfälle, die mit anderen Viren an anderen Orten zum Ausbruch von Infektionserkrankungen geführt haben.

Schließlich nennt er einige technische Details zur Genetik des Spike-Proteins und der sogenannten Furin-Spaltstelle, die seiner Meinung nach (aber auch laut Nobelpreisträger David Baltimore) ebenfalls auf einen Ursprung im Labor – eben durch Gain-of-Function-Forschung – hindeuten. Diese Details sind von etlichen anderen Fachleuten freilich auch genau gegenteilig gedeutet worden.

Tiefe politische Gespaltenheit

Wie auch Wade letztlich mehrfach betont: Letztgültige Beweise für die Laborthese sind all diese zusammengetragenen Indizien nicht. Sein Text hat in den vergangenen Tagen in den USA dennoch für einige Resonanz gesorgt; der Artikel und seine Rezeption zeigen aber auch, wie politisch aufgeladen und gespalten die Diskussion in den USA über das Thema ist.

Wade klagt im Text, dass die linke "Mainstream-Presse" in Sachen Laborthese viel zu wenig nachgebohrt habe. Klar favorisiert wird sie hingegen von rechten Medien und den Republikanern, die nach Erscheinen des Textes gleich einmal einen Antrag an das US-Außenministerium stellten, bisher geheimes Informationsmaterial über das Institut für Virologie Wuhan freizugeben.

Unter dem Strich bleibt einmal mehr: Genaues weiß man immer noch nicht. Die von Wade angegriffenen Forscher wie Daszak haben auf ihren Twitter-Kanälen in den letzten Tagen mehrfach zurückgeschossen; es gab aber auch etliche positive Kommentare aus der Community. Die National Institutes of Health wiederum wiesen in der Zwischenzeit im konservativen "Wall Street Journal", das ebenfalls der Laborthese anhängt, den Vorwurf zurück, dass mit den NIAID-Forschungsgeldern Gain-of-Function-Forschung in China unterstützt worden sei. Allerdings können auch die NIH in ihrer Antwort nicht ausschließen, dass man in Wuhan solche Experimente mit Coronaviren betrieben hat.

Nichtsdestotrotz kam es am Dienstag im US-Kongress auch wegen der von Wade verbreiteten Behauptung zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen dem Republikaner Rand Paul und Anthony Fauci, bei der NIAID-Chef Fauci ein weiteres Mal bestätigte, dass etwaige Gain-of-Function-Experimente am Institut in Wuhan nicht mit US-Geldern finanziert wurden. (Klaus Taschwer, 12.5.2021)